Die ruhige Oberfläche ist trügerisch, denn im Inneren dieses Mannes brodelt es: In 45 Tagen verwandelt sich David (Colin Farrell) in ein Tier, es sei denn, er findet die Liebe – oder wenigstens eine Frau. Doch Gefühle vorzutäuschen kann schwieriger sein, als welche zu besitzen.

Foto: Park Circus

Trailer (englisch).

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Wien – Was haben die Liebe und das Leben gemeinsam? Und was passiert mit jenen, deren Gefühle verschüttet oder verletzt sind? Vielleicht tauchen sie unter und suchen die Einsamkeit. Möglicherweise versuchen sie mit letzter Kraft den Anschluss an die Welt nicht zu verlieren. Sicher aber bleibt ihnen dafür nicht allzu viel Zeit. Denn allein sein kann man bald einmal, doch einsam zu sein, das schafft kaum jemand – vor allem dann nicht, wenn die Liebe zum Gebot wird.

Dann kann ein entlegenes Kurhotel zum Gefängnis für jene werden, auf die eine einzige Aufgabe wartet: eine Partnerin oder einen Partner fürs Leben zu finden – und zum Überleben. Denn wem es nicht gelingt, sich rechtzeitig zu binden, den erwartet nicht die Verbannung, sondern die Verwandlung, nicht in jemand anderen, sondern in etwas anderes. Gibt es einen größeren Unterschied zwischen Mensch und Tier als die Fähigkeit zu lieben?

David (Colin Farrell) hat eine exzellente Wahl getroffen, wie ihm die Hotelchefin erklärt: Ein Hummer hat eine hohe Lebenserwartung und ist bis ins hohe Alter sexuell aktiv. Wenn David also schon kein Mensch bleiben darf, so will er wenigstens ein Tier sein, das menschlichen Bedürfnissen entspricht. Und bis ihm dieses Schicksal dräut, darf er noch genau 45-mal als Mensch aufwachen. Jeder Tag zählt, lautet das Motto der Lebenslustigen, doch hier ist es ein Countdown. The Lobster ist eine tieftraurige Farce.

Yorgos Lanthimos, mit Arbeiten wie Dogtooth und Alps einer der wichtigsten Vertreter des neuen griechischen Kinos, ist kein Regisseur, sondern ein Filmemacher. Das sieht man diesem dystopischen Szenario, das Lanthimos auch als Autor seines ersten englischsprachigen Films entworfen hat, von der ersten bis zur letzten Minute an. Denn obwohl die Traurigkeit dieser menschenverachtenden Gesellschaftsordnung natürlich ein böser Witz ist, nimmt dieser Film seine Figuren zugleich todernst und erlaubt es uns erst dadurch, sie wieder als Menschen wahrzunehmen.

Heimliche Botschaften

The Lobster ist ein Film in zwei Teilen, die man als Prolog und Epilog beschreiben könnte. Lanthimos verzichtet nämlich ganz bewusst auf eine herkömmliche Entwicklung seiner Charaktere – zu David gesellen sich alsbald namenlose Leidensgenossen wie John C. Reilly als "Lisping Man" und Ben Whishow als "Limping Man" -, sondern vollzieht einen radikalen Bruch, der mit einem Schauplatzwechsel und Davids erwachender Willensstärke einhergeht. Gibt es einen Ausbruch aus einem System der Unterdrückung? Selbstverständlich. Doch erwartet einen dann die Freiheit? Nicht unbedingt. Denn die Freiheit, die man meint, ist nicht immer jene, die das Herz erfüllt.

Das Leben besteht aus Zwängen, und zu den schlimmsten gehört jener, glücklich sein zu müssen. Seine möglichen Lesarten, buchstabiert The Lobster jedoch nicht aus, etwa dass die Frauen – so Rachel Weisz als "Short Sighted Woman" – mehr Widerstandsgeist aufbieten als die Männer. Oder wie Gesten der Zuneigung, der Zuwendung gar, als heimliche Botschaften funktionieren. Lautlos und unbemerkt.

In einer großartigen Szene geben die Direktorin und ihr Ehemann im Ballsaal Something's Gotten Hold of My Heart zum Besten, um die Männer in ihren dunklen Anzügen und die Frauen in ihren gleich gemusterten Kleidern tanzend zueinander finden zu lassen. Doch es ist nur eine andere Jagd als jene, zu der sich die Gäste später versammeln, um das eigene Menschenleben zu verlängern.

Wenn man sich nach diesem Film die Frage stellt, in welches Tier man sich denn gerne selbst verwandeln lassen würde, sollte man sich die Antwort gut überlegen. Denn vielleicht genügt es ja schon, die Welt – und dann gerne auch die Liebe und das Leben – mitunter einfach mit anderen Augen zu sehen. (Michael Pekler, 13.2.2016)