Als Émile Zola am 13. Jänner 1898 seinen inzwischen legendären offenen Brief an den damaligen Präsidenten der Französischen Republik, Félix Faure, unter dem Titel J'Accuse ...! in der Tageszeitung L'Aurore veröffentlichte, um diesen und die gesamte Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe der "Dreyfus-Affäre" zu unterrichten, tat er dies auch, um auf die unübersehbaren Mängel und personelle Ungereimtheiten innerhalb des Justizapparats und die unerträglich gewordenen Verstöße gegen die bestehende Rechtsordnung hinzuweisen.

Ich kann mich natürlich nicht mit Émile Zola vergleichen, aber der aktuelle Anlass betreffend die Einstellung eines NS-Wiederbetätigungsverfahrens gegen das weit rechts stehende Blatt Aula ist nicht nur für mich ein beschämender Höhepunkt des nahezu vorsätzlich nachlässigen Umganges der österreichischen Nachkriegsjustiz mit der Aufarbeitung und Strafverfolgung von Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus und seiner Epigonen. Im Vordergrund standen immer Begriffe wie "Verdrängen", "Vergessen" und "Tabuisierung". Die 1945 ins Leben gerufenen Volksgerichte ermittelten bis 1955 zwar in circa 137.000 Fällen, es kam jedoch in nur 13.600 Fällen zu einer Verurteilung. 1955 wurden sie mit dem Abzug der Alliierten gleich wieder abgeschafft und nur noch Tötungsdelikte verfolgt, wobei fast immer Freisprüche erfolgten. Alle anderen Naziverbrechen wurden nicht mehr geahndet.

Dieses Fehlverhalten der Justiz führte dazu, dass nicht nur die Verbrechen selbst, sondern auch ihre Ahndung aus der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion verschwanden.

Mein Vater Peter Winterstein musste 1938 seine Heimat und Familie fluchtartig verlassen, wurde jedoch in den Niederlanden 1941 von den Nazis verhaftet und war ab dann in Haft, zuletzt ab 1942 bis zur Befreiung am 6. Mai 1945 im Konzentrationslager Mauthausen (Häftlingsnummer 10107). Da er bereits an offener TBC litt und bei einer Körpergröße von 1,80 Meter nur mehr 37 Kilogramm wog, wurde er von seinen Befreiern sofort in ein Spital überstellt, und war danach drei Jahre in einer Lungenheilstätte in der Schweiz, erst 1948 konnte er zu seiner Familie zurückkehren.

Jedoch nicht nur vor diesem persönlichen Hintergrund, sondern grundsätzlich geht der Anlassfall Aula weit darüber hinaus, was Opfer des NS-Regimes und deren Nachkommen mit dem Rest ihrer verbliebenen Belastbarkeit noch ertragen können. Jedwede wertende Differenzierung KZ-Befreiter ist an sich ein hochproblematisches Unterfangen. Diese könnte überhaupt nur einen unverfänglichen Aussagewert gewährleisten, wenn ihr Anlass sachlich gerechtfertigt und mit größtmöglicher sprachlicher Sorgfalt behandelt wäre.

Mit der im Anlassfall auf die KZ-Befreiten bezogenen Bezeichnungen wie "Landplage", "Kriminelle" u. a. m. bediente man sich jedoch jener Begriffe, wie sie von den Nationalsozialisten stets verwendet wurden, wenn es galt, missliebige Gruppen verächtlich zu machen. Die Unvereinbarkeit mit dem Grundwert der Menschwürde liegt ebenso auf der Hand wie das Fehlen eines sachlich gerechtfertigten Anlasses, eine schwerst leidgeprüfte Schicksalsgemeinschaft in einer Weise zu kategorisieren, die an Unsensibilität kaum zu übertreffen ist.

Die Grazer Staatsanwaltschaft stellte ein gegen diese Ungeheuerlichkeiten angestrengtes Verfahren mit der Begründung ein, dass diese vom Verfasser des Artikels getroffenen Feststellungen "nachvollziehbar" wären. Dass dies in einem staatlichen Verantwortungsbereich geschehen konnte, dem besondere Qualifikation und Wertverbundenheit abzufordern ist, bedrückt und empört zugleich. Es liegt mir daran, Ihnen, sehr geehrter Herr Bundesminister, dies mit Nachdruck zur Kenntnis zu bringen.

In einem Bericht vom 29. Juni 1938 betreffend "die Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof Wien" an den Staatssekretär Freisler in Berlin ist Folgendes festgehalten: "Der Generalprokurator Winterstein (jüdischer Abstammung oder sogar Volljude) sei in den Ruhestand getreten und solle sich dem Vernehmen nach in Dachau befinden." Als Enkel dieses letzten Generalprokurators der Ersten Republik (1932 bis 12. März 1938), Bundesministers für Justiz 1935/36 und Stellvertreters des Vorsitzenden des Staatsrats Robert Winterstein, der bereits am 14. März 1938 verhaftet, über Dachau nach Buchenwald verschleppt und dort am 13. April 1940 ermordet wurde, will ich ebenso wie viele Mitbürger kein Hehl aus einer Sorge machen, die mich angesichts aktueller Entwicklungen im Bereich der Strafrechtspflege bewegt.

Nicht nur mir, sondern auch in meinem öffentlichen Interessen verbundenen Umfeld fällt auf, dass die Agenden der Strafrechtspflege, die verfassungsrechtlich unabhängigen, unparteiischen Gerichten vorbehalten sind, zunehmend in den weisungsgebundenen Bereich der Strafrechtspflege, nämlich in die Kompetenz der Staatsanwaltschaften übertragen werden. Daran ändert auch der Etikettenschwindel nichts, dass Staatsanwälte laut Bundesverfassungsgesetz nun als Organe der Gerichtsbarkeit zu gelten haben. Nach gefestigter Dogmatik öffentlichen Rechts bleibt, wer (noch dazu) von einem Regierungsmitglied weisungsabhängig ist, Verwaltungsbeamter, egal welche Funktionsbezeichnung ihm zuerkannt wird.

Die Erfahrungen, die der Allgemeinheit mit solcherart aufgewerteten Staatsanwaltschaften zugemutet werden, sind alles andere als ermutigend. Es drängt sich die Frage auf, wie es in einem der obersten Dienstaufsicht des Bundesministeriums für Justiz unterstehendem Verantwortungsbereich geschehen konnte, dass in einem Fall der Bedeutung des Anlassfalls keine Berichtspflicht und keine inhaltsorientierte Fachaufsicht gewährleistet war bzw. ist? Wie konnte es weiters geschehen, dass mit dem Rechtsschutzbeauftragten und der ihm verfahrensrechtlich eingeräumten Befugnis zur Stellung von Fortführungsanträgen zwar auf dem Papier eine gewisse Fachkontrolle gewährleistet sein soll, deren Effizienz aber selbst in krass gelagerten Konstellationen, wie sie dem Anlassfall zugrunde liegt, gegen null tendiert?

Es erfüllt mit großer staatsbürgerlicher Sorge, dass in Kernbereichen der Strafrechtspflege serienweise Einrichtungen geschaffen werden, die den traditionellen und verfassungsrechtlich vorgegebenen Kompetenzbereich unabhängiger Richter scheibchenweise beschneiden. Aus welchen Gründen soll die Annahme berechtigt sein, dass ein Rechtsschutzbeauftragter für die Gesellschaft Besseres leistet als Verantwortliche der Weisungsspitze bzw. der Gerichtsbarkeit?

Was die Einrichtung des Rechtsschutzbeauftragten wirklich wert ist, zeigt der Anlassfall. Für die oberste Ebene der Weisungshierarchie ist er allerdings von Nutzen: Er fängt all das ab, was diese an eigener Verantwortung abgeben will. Dass mit dem neu kreierten "Weisungsrat" ein ähnliches Auffangbecken für Verdünnungsintentionen ministerieller Führungsverantwortung geschaffen wurde, bereitet nicht wirklich staatsbürgerlichen Trost.(Werner Winterstein, 16.2.2016)