Im Jahr 2009 übernahm Tschechien das erste Mal die Ratspräsidentschaft der EU. Das Motto war damals "Europa ohne Barrieren". Heuer steht Tschechien der Visegrád-Gruppe vor, das neue Motto setzt sich aus den Stichworten "Abriegelung", "Zaun" und "Nationalismus" zusammen. Mit der Errichtung neuer Mauern, so ist es heute Gewissheit, verfestigt sich das Bild des angsterfüllten und gespaltenen Europa. Auch hierzulande ist der Zaun zur allgemein akzeptierten politischen Norm geworden, zur Ultima Ratio in einer Zeit der schrillen Töne und populistischer Politik.

Unantastbare Würde

In der derzeitigen Debatte rund um Flüchtlinge stecken unterschiedliche Auffassungen von Europa. Hier die Angela Merkels, die in der Flüchtlingskrise an die Solidarität im Namen des europäischen Humanismus appellierte. Sie beruft sich auf das deutsche Grundgesetz und seinen Kern – "Die Würde des Menschen ist unantastbar". In der Substanz weicht Merkel auch heute nicht von ihrer Grundhaltung ab. Auf der anderen Seite steht Orbáns Auffassung von Europa, der mit dem Bau des Zauns die "europäische Kultur" zu schützen vorgibt. Viktor Orbán ist die Speerspitze eines neuen Diskurses der kulturellen Identität, wo all die anderen kulturell nicht zu Europa dazugehören und daher draußen bleiben müssen. Das ist die Neuinterpretation des Kampfes der Kulturen.

Nun, ein plurales Verständnis von Europa ist gut und für die Lebendigkeit der Europa-Debatte notwendig. Wenn die Positionen so weit auseinanderliegen wie zwischen Merkel und Orbán, zerreißt das Europa und setzt populistische und nationalistische Geister frei, die man nur schwer wieder einfangen kann. Einfangen könnte man sie nur durch schnelles und entschlossenes Handeln, das sich derzeit nicht abzeichnet. Ja ganz im Gegenteil – die Visegrád-Gruppe, die sich klar gegen Merkel und für die einseitige Abriegelung der Balkanroute ausspricht, bastelt an neuen Allianzen. Und wenn Paris bei 30.000 Flüchtlingen Schluss machen will, drängt es Merkel in eine isolierte Position hinein und die EU Richtung weiterer Zerreißproben. Mit diesem Wettbewerb der Härte geraten die geflohenen Menschen in den zweiten Plan und wird die Idee der europäischen Solidarität und Humanität pulverisiert.

EU-Integration stillgelegt

Im Zuge der Flüchtlingskrise ist der Balkan wieder en vogue. Derzeit ist die EU-Integration der Region trotz einiger formaler Fortschritte de facto stillgelegt. Die EU will auf dem Balkan Stabilität, von politischen Eliten Kompromissbereitschaft und Pragmatismus im Umgang mit Flüchtlingen, und von allen die Geduld auf der Erweiterungswartebank. Dafür nimmt man einiges in Kauf – zunehmenden Autoritarismus, Kontrolle der Medien, Unterdrückung der kritischen Bürger. Dass man gerade jetzt von Visegrád-Staaten und auch von Österreich den scharfen Grenzschutz an der mazedonischen Grenze als Lösung für die Flüchtlingskrise ansieht, löst keine Probleme, sondern produziert neue.

Die in Mazedonien durchaus autoritär regierende VMRO-DPMNE wird so vor den Wahlen im April gestärkt. Nach dem Abriegeln der Grenzen wird das Schlepperwesen neu aufblühen. Für die Betroffenen wird es teurer und gefährlicher werden, die Umsätze der Schlepper werden steigen. Letztlich werden die Flüchtlingsströme wieder umgeleitet. Angesichts der vielen offenen politischen Fragen auf dem Balkan, der teilweise desolaten sozialen Situation und der immer stärker um sich greifenden Demokratiemüdigkeit kann man mit falscher Politik die Entstehung einer neuen autoritären Zone der Instabilität befördern. Was die Region braucht, ist die EU als ein demokratisches und funktionierendes Role-Model. Genau das ist die EU aber derzeit keines. Der Balkan droht im angsterfüllten europäischen Tauziehen um Flüchtlinge zu einem massiven Kollateralschaden zu werden.

Zurück zum großen Narrativ: Das bisherige Scheitern Europas in der Flüchtlingsfrage bringt uns direkt in eine neue Grundsatzdebatte über Europa. Europa, das lange Zeit den Anspruch auf Friedensmacht und "Soft Power" in Sachen Menschenrechte hegte, entfernt sich in der Flüchtlingskrise mit einer rasenden Geschwindigkeit von seinen Grundfesten. Im Moment wird das 1989 geborene freie Europa nach allen Regeln der Kunst zerstückelt. Österreich mit der neuen Politik der Begrenzung macht da – bewusst oder unbewusst – mit.

Will man Europa nicht endgültig begraben, muss eine Wende her. Für ihre Realisierung muss nun rasch der Weg aus der nationalen ängstlichen Schrebergartenpolitik gefunden werden. Die europäischen Bürger haben berechtigte Sorgen, sagen aber auch – siehe die am Dienstag veröffentlichte neueste Studie der Bertelsmann-Stiftung – mehrheitlich, dass sie eine europäische Lösung bevorzugen, die solidarisch ist, Stabilität bringt und die Reisefreiheit wahrt.

Es braucht also Stimmen, die nüchtern über die Frage nachdenken, wie man die richtige Mischung aus einem geregelten Zuzug und einem solidarischen Verteilungsschlüssel für die Flüchtlinge, aus dem Schutz der Außengrenzen und engagierter Bekämpfung der Fluchtursachen und letztlich aus Kontrolle und Menschlichkeit findet. Und mutige Politiker, die entschlossen diese Politik umsetzen. Dem provinziell-nationalistischen Zeitgeist zum Trotz. (Vedran Dzihic, 17.2.2016)