Erste Vamp-Darstellerin der Filmgeschichte: die legendäre Musidora in "Les Vampires".

Foto: Filmarchiv Austria

Wien – Um Mitternacht geschieht Schreckliches: Die feine Gesellschaft von Paris hat sich zu einem verschwenderischen Fest zusammengefunden, als der Gastgeber eine Überraschung ankündigt. Und tatsächlich macht sich pünktlich zur vollen Stunde ein seltsamer Geruch im Ballsaal bemerkbar – Giftgas strömt aus vergitterten Ventilationsschächten.

Die Fenster erweisen sich als Attrappen, die Türen sind versperrt. Schon sinken die ersten Körper zu Boden, nach wenigen Minuten ist der verzweifelte Kampf verloren. Da öffnen sich zwei Türen und lassen die Silhouetten schwarz gekleideter Figuren erkennen. Langsam durchstreifen die Gestalten den Saal wie ein Schlachtfeld und plündern die Toten.

Mit Les Vampires drehte Louis Feuillade 1915/16 eine zehnteilige Serie rund um eine Verbrecherbande, die nicht nur private Fehden untereinander austrägt, sondern auch die Öffentlichkeit mit Terrorakten in Angst versetzt. Feuillade, der mit seinem Fantômas bereits einen anarchistischen Superschurken in Serie inszeniert hatte, lieferte mit Les Vampires sein Meisterstück ab: Wie Seismografen zeichneten die einzelnen Episoden die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs auf, der wenige Hundert Kilometer entfernt tobte. Les Vampires absorbierte die täglichen Schreckensmeldungen von der Front – so auch den erstmaligen Einsatz von Giftgas bei Ypern – und übersetzte sie auf die Leinwand.

Dem politischen und sozialen Umbruch durch den Weltkrieg war eine bis dahin unbekannte Form der Globalisierung und Mobilität vorausgegangen. Die Welt war zu einem Netz geworden – Eisenbahnen, Telegrafie, Waren- und Kapitalströme stellten erstmals ein flächendeckendes Verbindungssystem her, mit Metropolen wie Paris als pulsierenden Motoren. Die Vampire sind nicht nur Teil dieser Gesellschaft, sondern vielleicht sogar die ersten Modernisierungsverlierer. (Michael Pekler, 19.2.2016)