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David Cameron ist am Höhepunkt seiner Macht und seiner Schaffenskraft. Und seines Selbstbewusstseins. Das war klar erkennbar, als der britische Premierminister Freitagnacht in seiner Abschlusspressekonferenz beim EU-Gipfel das Reform- und Sonderstellungspaket für sein Land ("a fair deal for both sides") erläuterte, das er mit den 27 Partnern kurz davor ausgehandelt hatte.

Wer sich nach fast 30 Stunden Dauerverhandlungen mit nur zwei, drei Stunden Schlaf zwischendurch derart fit den nicht gerade zimperlichen britischen Journalisten stellen kann wie der Oxford-Absolvent, der signalisiert: Ich bin gerade auf der Gewinnerstraße. Beeindruckend: präzise, schnell, innerlich aufgeräumt und in praktisch fehlerlosen Sätzen – so präsentierte sich der 49-Jährige.

Tempo machen

Er testete gerade die erste Kampagnerede an sein Volk, einen flammenden Appell, für den Verbleib Großbritanniens in der EU zu stimmen. Für zehn Uhr früh – nur elf Stunden später – hatte er da bereits seine Regierung zusammengetrommelt. Sie sollte seinen Deal bestätigen. Und es wurde das für 23. Juni geplante Referendum über einen Verbleib Großbritanniens in der EU beschlossen und angekündigt.

Zack-zack, geht es nun dahin. Tempo machen, ist Camerons Ziel. Doch das waren nur die äußeren Umstände im politischen Kampf des Konservativen. Nach fast zwei Jahren der intensiven Dauerattacken gegen das Konzept der politischen Union in Europa (ein französisches Modell), dem er seine Vorstellung einer Gemeinschaft gegenüberstellte, die rein auf Wirtschaftszusammenarbeit und Bestehen im globalen Wettbewerb abstellt, spielt er das Match seines Lebens. Das weiß er auch.

Wenn der Premier das Referendum verlöre, wenn die Briten in vier Monaten für den EU-Austritt votierten, dann wäre auch er persönlich am Ende. Dann müsste er zurücktreten, so sehr er auch betont, dass er dann bleiben will (wohl in der Überlegung, dass es keine Abstimmung über ihn persönlich, den vielfach Unbeliebten, wird). Dann hätte er in Europa eine politische Zeitenwende vollzogen, die jahrzehntelang geltende machtpolitische Koordinaten auf dem Kontinent völlig über den Haufen werfen würde.

Rückfall an Bedeutung

Es mangelt daher in Camerons Erklärungen nicht an historischen Bezügen. Diese Abstimmung über das nunmehr geklärte weitere Verhältnis zu den EU-Partnern und die Stellung in der Welt sei für das jahrhundertealte Königreich "die vermutlich größte Entscheidung dieser Generation", eine "historische Entscheidung". Stimmt. Wären die Briten draußen, droht dem Land der Rückfall an Bedeutung. Den europäischen Partnern würde das wichtigste Bindeglied zu den USA, dem transatlantischen Verbündeten in der Nato, abhanden kommen.

Was ist der britische EU-Deal also inhaltlich wert, welches Gewicht hat er im Verhältnis zu den bestehenden Regelungen in den EU-Verträgen? Und wie steht es um die Chancen für Cameron, beim Referendum ein Ja zu erreichen und ab Sommer einen frischen Start in der Union angehen zu können?

Britische Sonderrechte

Ersteres lässt sich verblüffend einfach erklären – jenseits aller Detailregelungen, wann jetzt in Großbritannien zum Beispiel für welche EU-Ausländer wie viel Kindergeld ausgezahlt werden kann, und wie lange: Die so lautstark getrommelten Ausnahmen und neuen Spezialrechte für die Briten sind ziemlich limitiert. Substanz und Struktur der Europäischen Union wird nicht im Geringsten infrage gestellt. Ob etwa Initiativen von nationalen Parlamenten nun mit einem EU-"Stimmengewicht" von 55 Prozent im Ministerrat berücksichtigt werden müssen oder nicht, ist in der Praxis und im wirklichen Leben völlig unerheblich.

Der Großteil der Zugeständnisse bezieht sich auf britische Sonderrechte, die bereits jetzt im EU-Vertrag von Lissabon stehen. Nur wird noch einmal viel klarer und dezidierter festgeschrieben, was Großbritannien niemals machen wird; wozu es von der EU nie gezwungen werden kann; etwa die Grenzkontrollen gemäß den Schengen-Regeln abzuschaffen.

Schlagendes Bespiel: Cameron erklärte, dass nun klargestellt sei, dass sein Land niemals der Währungsunion beitreten werde, dass das Pfund neben "der bedeutenden Währung" Euro einen eigenen Platz habe. Das war im Prinzip (wie bei Dänemark) schon bisher so, wenngleich man aus den bestehenden Regeln herauslesen kann, dass im Prinzip alle EU-Mitglieder irgendwann einmal in der Geschichte den Euro einführen müssen.

Verstärkte Abgrenzung

In den Verhandlungen hatte Cameron noch darauf gedrungen, diese für sein Land bestehende Sicht auch auf die anderen acht EU-Staaten zu beziehen, die (noch) nicht im Euro sind: Es wurde abgelehnt.

Nach ähnlichem Muster lief es auch bei einem anderen prinzipiellen Ziel der EU, der Schaffung "einer immer engeren politischen Integration". Jetzt wird festgehalten, dass Großbritannien dieser politischen Union nie beitreten wird und die Partner das respektieren. In beiden Fällen gilt also, was auch für die gesamte, 29 Seiten umfassenden Vereinbarung gilt: Die Abgrenzung zwischen Briten und Rest-EU wird präzisiert und tendenziell verstärkt. Aber die Substanz der Union bleibt davon völlig unberührt.

Es gibt eine einzige Neuregelung, die sich auch andere EU-Staaten wie Großbritannien nun zu eigen machen könnten: zeitlich begrenzte Einschränkungen bei Sozialleistungen an EU-Ausländer, die in Großbritannien leben und arbeiten. Ab 2017 darf die Regierung in London auf vier Jahre die Kinderbeihilfe und andere kleinere Leistungen aus dem Sozialtopf kürzen, etwa für die vielen Polen und Balten im Land. 2024 läuft dieses Sonderrecht wieder aus.

Genehmigungspflichtiger "Notstand"

Eine solche Diskriminierung von EU-Bürgern als Sonderrecht eines EU-Staates, das mit dem Wohlstandsgefälle und Sozialmissbrauch argumentiert wird, ist zweifelhaft. Aber auch hier hat Cameron sich nicht völlig durchgesetzt: Bevor er das umsetzen kann, muss er in Brüssel einen "Notstand" im britischen Sozialbudget anmelden. Die EU-Kommission muss das genehmigen, und die EU-Staaten müssen zustimmen. Das erspart London sicher ein paar Hundert Millionen Pfund in der Staatskasse, aber es klingt auch eher nach einer (selbst)demütigenden Aktion.

In jedem Fall gibt aber selbst bei den Sonderregelungen im Sozialbereich: Großbritannien hat sich weiter verpflichtet, sich der Logik des EU-Recht, und damit am Ende dem Richterspruch europäischer Höchstgerichte zu unterwerfen.

Womit wir bei der Frage wären, wofür die Briten nun stimmen werden? Ob Cameron eine gute Chance hat, beim Referendum ein Ja zu den Reformen zu erreichen, damit der EU-Austritt ("Brexit") verhindert werden kann?

Rhetorisch betont

Die Chance dazu dürfte mit der Vereinbarung gestiegen sein. Cameron wird ohne Unterlass bescheinigt, was er doch für ein großer Patriot sei! Aber er will als Premier weiter kräftig in Europa mitmischen. Der Deal ist moderat. Er gesteht den Briten auf EU-Ebene ein paar Dinge mehr zu – und sei es nur, dass ihre besondere Stellung in der Union, der "special status" vor allem rhetorisch betont wird. Es wird aber auch erneuert klargestellt, wie wichtig das Königreich in seiner historischen, globalen und sicherheitspolitischen Bedeutung für die europäische Gemeinschaft ist. Das dürfte den pragmatischen Briten durchaus gefallen: In der Welt mitzubestimmen statt abseits zu stehen, ist eine Haltung, die lange Tradition hat.

Es ist daher wohl auch kein Zufall, dass Labourchef Jeremy Corbyn, der im Gegensatz zu seinen Vorgängern Tony Blair, Gordon Brown und Ed Miliband zu den linken EU-Skeptikern gezählt wird, noch während Camerons Pressekonferenz in Brüssel twitterte, dass er bei der Referendumskampagne für den Verbleib in der EU werben wird. Wenn Opposition und Regierung das gemeinsam tun, werden sich die antieuropäischen Rechtspopulisten um Ukip-Chef Nigel Farage und die EU-Skeptiker bei den Tories schwerer tun, ein Nein zu erzwingen. Aber Umfragen zeigen bisher, dass es ein knappes Rennen wird. (Thomas Mayer aus Brüssel, 20.2.2016)