So schnell kann das gehen, wenn nationale Regierungen auf dem komplexen Feld europäischer Politik allzu penetrant auf Egoismus und Verweigerung wechselseitiger Solidarität setzen. Ein solches Verhalten kann einem bei EU-Verhandlungen in Brüssel am Ende selbst auf den Kopf fallen und zu einer unschönen Art eines "sozialen Dominoeffekts" führen – zulasten von Schwächeren.

Diese bittere Erfahrung mussten am Ende eines turbulenten EU-Gipfels die Chefs der meisten Regierungen aus Osteuropa machen. Sie waren es, die am ersten Tag noch kaltschnäuzig darauf bestanden hatten, bei der Lösung des Flüchtlingsproblems nichts beitragen zu müssen. In einer wilden Debatte wurden sie vom Italiener Matteo Renzi vergeblich gewarnt: Wer keine Flüchtlinge aufnehmen wolle, wer dabei Solidarität verweigere, müsse damit rechnen, dass die Nettozahler-Staaten (im Westen) wenig solidarisch sind, wenn es um Gelder für EU-Bürger in Osteuropa geht. Vergeblich.

24 Stunden später konnte sich der tschechische Premierminister Bohuslav Sobotka verblüfft die Augen reiben: Im Zuge eines Kompromisses mit Premier David Cameron einigte man sich unter Druck der großen Länder darauf, dass Großbritannien bei Sozialleistungen an EU-Ausländer Kürzungen vornehmen darf, wenn auch nur unter ganz spezifischen Bedingungen.

Besonders betroffen: die Kinderbeihilfe für hunderttausende Arbeitnehmer aus Osteuropa, vor allem aus Polen und den baltischen Staaten, die den freien Personenverkehr nützen, um in England, Schottland oder Wales Geld zu verdienen. Aber vielleicht betrifft es bald auch viele Tschechen.

Um dem Diskriminierungsverbot in den EU-Verträgen zu entgehen, musste eine Regelung gewählt werden, der gemäß solche Einschränkungen im Prinzip allen EU-Staaten offenstehen. Ein Land muss zwar eine "Notsituation" im Sozialsystem nachweisen können, muss das "außergewöhnliche Ausmaß" von negativen Folgen durch Zuwanderung nachweisen, ehe es von der EU-Kommission die Erlaubnis zum Kürzen bekommt.

Es dauerte tatsächlich nicht lang, bis auch andere Länder signalisierten, sie könnten sich Kürzungen beim Kindergeld vorstellen. Nicht nur österreichische Regierungsvertreter sprachen davon. Auch Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel meinte, ihr Land "könnte davon Gebrauch machen".

Das träfe dann vor allem Wanderarbeiter aus den Nachbarstaaten, den Visegrád-Staaten, wie Sobotka irritiert festhielt: Hunderttausende aus diesen Ländern arbeiten in Österreich und Deutschland, viele Kinder leben aber in den Herkunftsländern, wo Beihilfe aus dem Westen viel mehr wiegt als im Gastland.

Die britischen Konservativen sehen solches explizit als "Sozialmissbrauch" an, was reiner Populismus ist, denn die Eltern zahlen ja unvermindert Steuern und in die Sozialtöpfe ein. Um einen drohenden "Brexit" zu vermeiden, gilt nun in der EU, wenn auch nur für eine Übergangszeit von sieben Jahren: Solidarität ist out. Die Zeche zahlen die Kinder.

Das ist auf einem alternden Kontinent, der fast überall stark rückläufige Geburtenziffern aufweist, nicht wirklich vernünftig. Und für Großbritannien, das so besonders großen Wert auf Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität des Standortes legt, gilt: Wer die in der Regel besonders tüchtigen Zuwanderer sozial benachteiligt, macht sich unattraktiver. Nur wenige wollen in einem familienfeindlichen Land leben. (Thomas Mayer, 21.2.2016)