Der Name Essaouira soll dem Geräusch nachempfunden sein, das der Wind macht, wenn er über die Felsen im Meer fegt. Die Einheimischen sprechen den Namen sanft und flüchtig aus, die Hälfte der Vokale fehlt. Es klingt eher wie ein scharfes s gefolgt von einem sich verlierenden Pfiff. Der Name hat auch eine Bedeutung: die Eingeschlossene.

Abends steht man zwischen jungen Menschen, die die Beine zwischen Kanonenrohren von der Festungsmauer baumeln lassen und wie in einem Autokino gebannt hinaus auf den Atlantik schauen, wo gleich die Sonne baden gehen wird. Dann hört man den Wind tatsächlich den Namen der Stadt flüstern.

Essaouira – oder Souira, wie die Bewohner der Stadt sagen – heißt "die Eingeschlossene". Der Blick auf die Festungsmauern macht klar, warum. Die Stimmung in der Stadt ist aber aufgeschlossen, heiter und entspannt.
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Der Wind ist fast allgegenwärtig, legt sich nur in den engen Gassen der Medina. Man gewöhnt sich an seinen Grundton, und so wird er zur Stille. Morgens vermischt sich der sanfte Singsang des Windes im alten Hafen vor der Port de la Marine mit gleichmäßig metallischem Klopfen an alten Schiffsrümpfen und dem Gekreische der Möwen, die über den Fischständen kreisen. Manche Fischer haben ihre Schwertfische, Hummer, Langusten, Garnelen und Rochen einfach auf Pappe auf den Asphalt gelegt. Wenn man sich unterhalten will, merkt man erst, wie laut es hier ist.

Es ist ein gleichförmiger Lärm, der einen fast in Trance versetzt, während man zwischen hunderten leuchtend blauen Holzbooten und weinroten, türkisen und weißen Fischernetzen herumspaziert. Auf der Port de la Marine, dem alten Hafentor, hat man einst mit den eingemeißelten Symbolen der Jakobsmuschel, des Halbmondes und des Davidsternes alle drei abrahamitischen Religionen willkommen geheißen. Wenn man es heute durchschreitet, lässt man die Hafengeräusche hinter sich, überquert einen großen hellen Platz und taucht in die verwinkelte Medina ein, die seit 2001 als Unesco-Weltkulturerbe gilt.

Stadt der Hippies

Jahrzehnte bevor die Unesco die alten Wege und Plätze zu schätzen lernte, haben Hippies, Künstler und Musiker die Stadt bevölkert. Auch Jimi Hendrix entspannte sich Ende der 1960er gerne hier. Nach ihm ist im benachbarten Berberdorf Diabat ein kunter buntes Café benannt. Heute sitzen 60- bis 70-jährige Europäer mit wallenden weißgrauen Mähnen hier bei Pfefferminztee.

In der Medina von Essaouira zeugen aber auch jede Menge Antiquariate mit Büchern aus den 1960ern, Galerien und Trödelläden von den Spuren der Hippies. Die entspannte, weltoffene und künstlerische Atmosphäre hat sich jedenfalls gehalten. Frauen schlendern hier mit und ohne Kopftuch tratschend über den Markt. Die Bekleidungstipps, die man als Touristin mit auf den Weg nach Marokko bekommt, finden hier wenig Entsprechung.

Die Früchte des Arganbaumes aus denen hochwertiges Arganöl gepresst wird.
Foto: Colette M. Schmidt

"Trotzdem", sagt die 42-jährige Dolmetscherin Rashida, die in Essaouira aufgewachsen ist, "es gibt noch viel Arbeit in Sachen Gleichberechtigung." Immerhin habe König Mohammed VI. mit seiner "moderneren Frau" viel an Fortschritt zugelassen: "Wir Frauen sitzen jetzt im Parlament und in der Regierung", sagt Rashida stolz, "vor dem Gesetz, auch dem Eherecht, sind wir jetzt gleichberechtigt, aber es liegt noch viel Arbeit vor uns."

Gelebte Emanzipation kann man in der Umgebung Essaouiras in Arganöl-Frauenkooperativen beobachten. Hier produzieren und vermarkten Frauen hochwertiges von Hand gewonnenes Bioarganöl. Wer es nicht direkt in den Kooperativen kaufen will, deren Besuch sich allerdings wirklich auszahlt, bekommt es auch am Souk in Essaouira.

Der Hafen: Blaue Boote und jede Menge Möwen.
Foto: Naima Schmidt

Auf diesem riesigen Markt werden Tag und Nacht duftende Thujaholzkästchen, Keramik und Gewürze verkauft. In jenem Teil, wo die Wände der kleinen Geschäfte fast alle mit den charakteristischen blauen Fließen verkleidet sind, sitzen die Schmuckhändler. Ihre Fenster sind mit Vorhängen aus silbernen Ketten verhangen.

Ein Schmuckstück fällt immer wieder auf und ist Sinnbild für die besondere jüdisch-muslimische Geschichte der Stadt, die für ein arabisches Land außergewöhnlich ist: ein Anhänger in der Form von Fatimas Hand, also der stilisierten Hand der jüngsten Tochter des Propheten Mohammeds, die Schutz bringen soll. In ihrem Zentrum ist ein Stern eingraviert. "Ja, sicher ist das ein Davidstern – das gibt doppelten Schutz", sagt ein Schmuckhändler und zeigt stolz weitere mit Email und Steinen verzierte Exemplare. "Waren Sie schon im jüdischen Viertel oder in der Synagoge, die gerade renoviert wird?", fragt er dann, "da müssen Sie unbedingt hin."

Spuren der Verwitterung

In besagter Synagoge steht Haïm Bitton mitten in einer Baustelle. Es ist die Slat Lkahal, die Synagoge des Volkes oder Gemeinschaftssynagoge. Die Holzbänke entlang der Wände im großen Gebetsraum sind sauber und repariert. Die Holzvertäfelung, hinter der einst die Tora aufbewahrt wurde, auch. Doch an den Wänden und der Decke kann man vor allem in den Nebenräumen noch Spuren der Verwitterung, die das Gebäude völlig zu zerstören drohte, erkennen. "Es geht vor an", sagt Bitton im Staub stehend und zeigt Fotos auf seinem Tablet-Computer, "kaum zu glauben, wie es hier vor ein paar Monaten noch ausgesehen hat."

Foto: imago/imagebroker

In Essaouira oder Mogador, wie die Stadt einst hieß, lebten früher mehrheitlich Juden, auch die Bürgermeister waren bis in die 1960er-Jahre manchmal Juden. Eine absolute Ausnahme unter arabischen Städten. Es gab viele Synagogen in der ganzen Stadt, einige waren in Privatbesitz, die Slat Lkahal aber war für alle da.

Rettung einer Synagoge

Ab 1967 wanderten tausende jüdische Familien nach Israel aus. Fast 50 Jahre später leben kaum mehr Juden in Essaouira. Auch Bitton, der hier geboren wurde, nicht. Trotzdem kommt er, wann immer er kann, und kümmert sich mit Hingabe um die Erhaltung der Synagoge. Das ganze Viertel, in dem sie steht, ist ziemlich her untergekommen. Aber noch im Verfall sind die alten Häuser wunderschön. Auf manchem Türbogen findet man noch den sechszackigen Stern.

Bitton betont, dass die Rettung der Slat-Lkahal-Synagoge durch Spenden von Juden und Muslimen finanziert wird. In Essaouira ist man stolz auf das jüdische Kulturerbe. Zu den hohen jüdischen Feiertagen ist Essaouira eine Pilgerstadt: Jedes Jahr kommen tausende Juden aus Kanada, Frankreich und Israel. "Wenn Leute nicht glauben, dass Muslime und Juden Freunde sein können, sollten sie herkommen und etwas lernen", sagt Naima, die unweit der Synagoge Tücher verkauft.

Auch Jimi Hendrix entspannte sich Ende der 1960er gerne hier. Nach ihm ist im benachbarten Berberdorf Diabat ein kunter buntes Café benannt.
Foto: Colette M. Schmidt

Das typische Wohnhaus in der Altstadt ist ein traditioneller marokkanischer Riad. Er wirkt von außen fast wie Teil einer Festungsmauer. Die kleinen Fenster halten Hitze und Wind ab. Doch im Inneren überrascht ein wunderschöner Hof, oft mit bunten Fließen ausgelegt oder mit Palmen begrünt. Das Leben in einem solchen Haus ist offen und luftig. In genau so einem alten Riad eröffnete vor wenigen Jahren das Hotel Heure Bleue Palais, an dem man außen fast vorbeigeht. Wenn man aber das große blaue Holztor gefunden hat, betritt man ein schönes, bis ins Detail elegantes und gemütliches Haus. Alle Zimmer führen auf den Innenhof.

Küchenchef Ahmed Handour lässt die Gäste in seine Küche und leitet geduldig Kurse im Zubereiten von traditionellen Couscousgerichten. Auf den Souk, der fast vor der Tür beginnt, sollte man nicht ohne die Liste seiner Lieblingsgewürze gehen. (Colette M. Schmidt, 23.2.2016)