Selbst wenn man ihn nicht sieht, ist der Pico allgegenwärtig. Er kann sich tagelang hinter Wolken oder Nebel verbergen – und dann steht der Vulkan plötzlich vor einem, in voller Größe und Präsenz. Schön, bedrohlich, unwiderstehlich. Unter Aktivreisenden gilt der Berg noch als Geheimtipp. Doch das könnte sich ändern, die Azoren werden als Reiseziel immer beliebter. Die britische Suchmaschine Skyscanner hat dokumentiert, dass die Nachfrage unter Reisenden nach der portugiesischen Inselgruppe im Atlantik in den vergangenen drei Jahren unter allen Zielen weltweit am stärksten gestiegen ist.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Besteigung des Vulkans Pico beginnt bereits auf 1.200 Meter Seehöhe in einem Naturpark.

Die Besteigung des Pico beginnt im Naturpark auf 1200 Meter Seehöhe. Erst spaziert der Wanderer an zarten Bodenblühern und mannshohem Heidekraut vorbei. Dann arbeitet er sich auf rutschigem Basaltsplitt in Schlangenlinien steil aufwärts.

Training für den Azores Trail Run

Auch Renato Goulart ist wieder unterwegs. Ihn treibt ein brennender Ehrgeiz auf den Giganten. Über 1800-mal ist der Bergführer schon auf die Kraterspitze gerannt und will die 2351 noch vollmachen – so hoch ist der Gipfel: 2351 Meter. Wofür normale Wanderer sechs Stunden benötigen, dafür braucht "Stahlwade" nur eineinhalb. Derzeit trainiert er für den Azores Trail Run, den Zwei-Insel-Marathon mit Vulkanroute, der im Mai stattfindet.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der höchste Berg Portugals, Ponta do Pico (2351 m), liegt weit draußen im Atlantik auf der Azoreninsel Pico.

Der Pico ist der höchste Berg Portugals und liegt mitten im Atlantik. Die zweitgrößte Azoreninsel heißt nicht umsonst wie er. "Er ist die Insel", sagt Flamínio Alberto Costa. Der mächtige Kegel macht sich so breit, dass er den Menschen nur einen schmalen Küstenstreifen zum Leben lässt. Gespuckt habe er seit Ewigkeiten nicht, erzählt der gebürtige Picaroto Costa. "Aber er lebt. Er schläft nur", ist der Vulkanologe überzeugt.

Felder voller Rätsel

An der Küste hat der Vulkan deutliche Spuren hinterlassen. Als der Feuerberg vor fast 300 Jahren zuletzt ausbrach, machte er über Nacht Lebenswerke zunichte. Die entstandenen Lavafelder, für die die Bewohner keine Erklärung fanden, nannten sie Mistérios, Rätsel. Mehrmals walzten glühende Basaltmassen über den Boden. Zurück blieben seltsame Formationen wie Schlauch-, Wulst- und Stricklava bei São João, Prainha und Lajido de Santa Luzia.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Picarotos nutzen Basalt als Baustoff für die raffinierten Mauern, mit denen sie ihre Weinreben vor dem scharfen Seewind schützen.

"Basalt prägt unser Leben", sagt Costa. Die Picarotos nutzen ihn als Baustoff für ihre Häuser und die raffinierten Mauern, mit denen sie ihre Reben bis heute vor dem scharfen Seewind schützen. Wie ein engmaschiges Spinnennetz überziehen hüfthohe Einfriedungen Parzellen am westlichen Küstensaum von Criação Velha und der Zona de Adegas. Die ungewöhnliche Weinlandschaft gehört seit 2004 zum Unesco-Welterbe, ein Qualitätsweingebiet ist Pico aber bereits seit 1994. Der wärmespeichernden Lava verdankt der weiße Verdelho seinen guten Ruf, der Süßwein von Lajido ist eine Spezialität.

In den Eingeweiden des Vulkans

Wer nicht genug vom Vulkan bekommen kann, darf sogar in seine Eingeweide vordringen: Durch ein zugewuchertes Einsturzloch steigt der Besucher mit Schutzhelm und Stirnlampe in die Gruta das Torres zu einem 45-minütigen Rundgang in völlige Dunkelheit. "Auf Pico sind 130 Höhlen identifiziert", sagt Luís Freitas, Geologe und Höhlenguide. Diese sei mit fünf Kilometern die längste.

Die Portugiesen kamen 1427

Auf den neun Azoreninseln kommt man überall mit unterschiedlichen vulkanischen Phänomenen in Berührung, am intensivsten auf den Zentralinseln Pico, São Jorge und Faial, dem sogenannten Triângulo. "Töchter des Windes, Bräute des Vulkans" nennt man sie – die Inseln verdanken ihre Existenz vulkanischer Kraft, ihre Entdeckung dem Wind. Letzterer war es, der portugiesische Karavellen vom Kurs abbrachte und 1427 in Richtung Santa Maria trieb. Bis 1452 sichteten die Seefahrer auch die acht anderen.

Die Landtupfer im glitzernden Ozean sind nur die Spitzen einer submarinen Gebirgswelt. Tief unten treffen drei tektonische Platten aufeinander, die an den dünnen Stellen aufbrechen und glühendes Magma emporschleudern können. Das geschah vor mehr als vier Millionen Jahren. Plötzlich gab es im Atlantik 2346 Quadratkilometer mehr Land.

Bild nicht mehr verfügbar.

São Jorge ist eine der grünsten unter den neun Azoreninseln.

Mit der Fähre sind es nur dreißig Minuten von Pico nach São Jorge. Auch dort hat der Aufruhr der Elemente eine eigene Anatomie hinterlassen, die Fajãs, Lavazungen, die sich an den Rändern der Steilküste gebildet haben. Über 40 wurden damals nach Eruptionen auf dem Weg ins kalte Meer gestoppt und später von Pflanzen herrlich grün überwachsen – heute sind es einsame Plätze für Philosophen, Träumer oder Kaffeesträucher. Das Gefühl für Zeitlosigkeit lernt man auf den kleinen Inseln schnell kennen – diese z. B. hat keine 250 Quadratkilometer.

Beste Gründe für Rinder

Die besten Grundstücke auf São Jorge gehören den Rindern. Wo andernorts Siedlungen dicht an dicht liegen, grast hier das Vieh. Tausende Kühe sorgen so für den Rohstoff des berühmten Käses Queijo de São Jorge. Während auf Faial kilometerlange Hortensienmauern die Weideflächen einfassen, trennt hier Heidekraut die Koppeln. Und die knorrige, bis zu drei, vier Meter hohe Erica Azorica gibt der ohnehin rauen grünen Landschaft einen noch grüneren Anstrich.

Bild nicht mehr verfügbar.

Aschegrau ist die charakteristische Farbe der Azoreninsel Faial.

Grasgrün ist für São Jorge die charakteristische Farbe, für Pico Basaltschwarz, für Faial Aschegrau, jedenfalls im Inselwesten. Vor der Pfarrkirche des Hauptortes Horta bietet sich Taxifahrer Tony Carvalho, der eigentlich António heißt, aus dem offenen Fenster für eine Inseltour an. Tony spricht gutes Englisch, weil er lange in Kalifornien lebte. Am Rückspiegel baumeln ein Kreuz und eine Christusfigur. "Nur für den Notfall", sagt er.

Fontänen über Faial

Zu Tonys Programm gehört immer der Inselwesten von Faial, wo man einem besonderen Bild der Naturgewalten begegnet. "Die Erde bebte und zitterte wochenlang", erinnert sich Senhor Tomás Matos, der den Vulkanausbruch als junger Mann vom Ort Capelo aus beobachtet hatte. "Aschefontänen von 2000 Metern Höhe schossen aus dem Meer", berichtet er fasziniert vom spektakulären Schauspiel, das sich am 27. September 1957 ereignete. Halb Faial machte sich damals auf, um einem seltenen Phänomen beizuwohnen: Der Vulkan schleuderte das Magma so hoch, dass es unterwegs erkaltete und steinhart zur Erde fiel. Ein Jahr lang spuckte er, dann erlosch er. Zurück blieb graue Verwüstung. Der Leuchtturm von Capelinhos versank in Asche.

Modernes Besucherzentrum

Erst 2008 wurde der Turm freigeschaufelt. Im Untergrund dokumentiert ein modernes Besucherzentrum den Vulkanausbruch und das schwere Erdbeben von 1998. Den Ausbruch in seinen zehn Phasen macht eine multimediale Show eindrucksvoll sicht- und hörbar. "Schlimmer als die Zerstörung der Häuser war, dass der Boden durch die Asche auf Jahre unfruchtbar wurde", sagt die Geologin Salome Menezes. Das sei der Hauptgrund für die starke Emigration gewesen. Angst vor Vulkanen hat Menezes nicht, sie meint vielmehr: "Wären sie nicht, wären die Inseln nicht."

Bild nicht mehr verfügbar.

Vor dem Auslaufen aus dem Hafen von Horta hinterlassen manche Skipper Graffitis auf der Mole.

Zurück in Horta rät Tony, unbedingt zur Marina zu gehen. Elegant und gischtweiß dümpeln dort schnittige Yachten. Für Atlantiküberquerer ist Faial quasi Pflichthaltestelle. Nach Tagen auf hoher See betreten Segler und Weltenbummler erstmals wieder festen Boden. "Wir füllen unsere Kombüsen auf, erledigen Reparaturen", sagen zwei Schiffseigner aus Belgien.

Vor dem Auslaufen ein Graffiti

Später trifft man sich in Peter's Café Sport – wo sonst. Nur hier gibt es Livemusik, dazu den obligatorischen Gin Tonic. Unten an der Mole, wo Skipper vor dem Auslaufen ein Graffiti auf der Kaimauer hinterlassen, um eine gute Fahrt zu erbitten, blickt man noch einmal übers Wasser und auf den ebenmäßig geformten Vulkan auf der gegenüberliegenden Insel. Hoheitsvoll und mächtig ragt der Pico aus dem Meer, als wäre wirklich nur er die Insel. (Beate Schümann, RONDO, 4.3.2016)