Sozialexperte Bernd Marin: "Ich glaube ja nicht, dass am deutschen Wesen die Welt genesen soll, aber die deutsche 'Rente mit 67' ist natürlich eine andere Referenzgröße als unsere 'Rente mit 65 oder 60'. Allein der Unterschied würde den impliziten Schuldenberg, den wir in Österreich haben, enorm verkleinern.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Die Regierung feiert sich, weil sie beim Pensionsgipfel eine Einigung erzielt hat. Stimmen Sie in den Jubel ein?

Marin: Das kann ich nicht, weil ich die Papiere noch nicht gesehen habe.

STANDARD: Aber generell ist es doch ein richtiger Schritt, dass man Menschen motivieren will, über das gesetzliche Pensionsalter hinaus zu arbeiten?

Marin: Das ist ein völlig richtiger Schritt, aber leider ein unzureichender. Denn seit wir versicherungsmathematisch annähernd korrekte Zu- und Abschläge haben, also seit letztem Jahr, bringt eine bloße Erhöhung des faktischen Pensionsalters keine Entlastung der Pensionskassen mehr. Und wenn man dann noch Frauen subventioniert dafür, dass sie bis 63 arbeiten, während ein Mann im selben Alter schon Abschläge hat, dann ist das im Gegenteil eine Verteuerung. Ich sehe nicht, wie das die Pensionskassen entlasten soll.

STANDARD: Und bei den Männern ist das Problem ja nicht dort, dass man eine Handvoll motivieren muss, über 65 hinaus zu arbeiten, sondern dass viele nur bis 60 arbeiten?

Marin: Im Prinzip spricht einiges dafür, das faktische Pensionsalter auch anzuheben. Aber wir dürfen uns keiner Illusion hingeben: Eine Entlastung bringt nur eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters ...

STANDARD: ... an dem versicherungsmathematisch Abschläge anknüpfen und damit die Kosten des Systems?

Marin: Nur das entlastet die Pensionskassen, auch wenn man es behutsam macht, also schon ein oder zwei Monate pro Jahr.

STANDARD: Durch die Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters geht die Schere zum faktischen Pensionsalter wieder auf, weil die Leute ja nicht automatisch länger arbeiten werden?

Marin: Das hat mehrere Effekte: Es bewirkt einerseits eine Kostendämpfung, weil man, um die Bemessungsgrundlage zu erreichen, ein, zwei Monate länger arbeiten muss. Andererseits ist das natürlich auch ein Anreiz, eben das zu tun und länger zu arbeiten.

STANDARD: Sie sprechen von einer Anhebung von ein, zwei Monaten pro Jahr. Wie weit soll das gehen?

Marin: Ich glaube ja nicht, dass am deutschen Wesen die Welt genesen soll, aber die deutsche "Rente mit 67" ist natürlich eine andere Referenzgröße als unsere "Rente mit 65 oder 60". Allein der Unterschied würde den impliziten Schuldenberg, den wir in Österreich haben, enorm verkleinern.

STANDARD: Die Leute hätten damit aber nicht nur die Perspektive, länger arbeiten zu sollen. Sie hätten doch auch das Problem, überhaupt einen Arbeitsplatz zu haben?

Marin: Das stimmt – aber nur zum Teil. Wir sehen, dass in ganz Europa das Arbeitslosigkeitsrisiko für die Altersgruppe 55-64 um ungefähr 50 Prozent geringer ist als das der Prime Agers (24-54) und um ein Haus besser als das der ganz jungen Leute unter 24. Da ist viel Sozialkitsch im Umlauf. Es gibt zwar Probleme der Langzeitarbeitslosigkeit, aber das betrifft nur eine kleine Gruppe.

STANDARD: Dass Ältere vom Arbeitgeber in die Pension gedrängt werden, ist doch ständig zu sehen?

Marin: Das ist teils wahr, teils eine Legende. Wahr ist, dass die, die den Job verlieren, große Probleme mit dem Wiedereinstieg haben. Aber das gilt auch nicht für alle Länder, sondern vor allem in Kontinentaleuropa ...

STANDARD: ... während in England grauhaarige Damen und Herren an der Supermarktkassa bedienen?

Marin: Genau.

STANDARD: Bei uns bleiben allenfalls höher Qualifizierte im Job?

Marin: Das ist nicht weiter erstaunlich. Das ist, was Karl Marx als entfremdende Arbeit bezeichnen würde: Wenn ich einen Job habe, der keinerlei Entfaltungsmöglichkeit bietet, ist "nix wie weg" die natürliche Devise. Das gilt eigentlich nicht für die Mittelklasseberufe – aber inzwischen erfasst die Flucht aus dem Job weite Schichten der eigentlich privilegierten Mittelklassen. Da herrscht eine Kultur der Frühpension, ein Mix aus muffeliger Unterschichtverweigerung und aristokratischen Werten des Müßiggangs gegenüber dem bürgerlichen Wert der Leistung. (Conrad Seidl, 2.3.2016)