David Graeber, "Bürokratie. Die Utopie der Regeln". Übersetzung von Hans Freundl und Henning Dedekind. € 23,- / 320 Seiten. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2016

cover: klett-cotta-verlag

Der Amerikaner David Graeber ist, in alphabetischer Reihenfolge, Anarchist, Anthropologe, Mitbegründer von Occupy Wall Street, Miterfinder des Slogans "We are the 99 percent" sowie Autor des "Weltbestsellers" Schulden, in dem es zwar nicht um alle Schulden, aber doch um die der "ersten 5000 Jahre" geht, immerhin. Auch in seinem neuen Buch frönt der am Londoner Goldsmith College lehrende Tausendsassa keineswegs der thematischen Zurückhaltung, sondern nimmt sich das Riesenthema Bürokratie zur Brust (im Untertitel zur englischen Ausgabe kommen noch die "Technologie" und die "Dummheit" hinzu). Dass eine solche Vielfalt und Breite auf gut 300 Seiten nicht erschöpfend abzuhandeln ist, ist natürlich auch Graeber klar. Bürokratie liefert denn auch keine kühle und erschöpfende Analyse des Phänomens à la Max Weber, sondern präsentiert sich eher als ein Aggregat von energiegeladenen Impulsreferaten, in denen der Sprudelgeist Graeber jede Menge vermeintlicher Gewissheiten durcheinanderwirbelt und Wege weist, in die sich eine "linke Bürokratiekritik" entwickeln könnte.

Wieso aber braucht die Linke eine Kritik der Bürokratie, die ja sonst nicht zu ihren ureigensten Anliegen gehört? Erst einmal einfach deshalb, um sie nicht der Rechten zu überlassen, meint Graeber, ganz gestandener Polit-Aktivist. Der von der neoliberalen Rechten populistisch zugespitzte Antagonismus von "bösem", weil bürokratischem Staat und "gutem" Markt ist, zumal in den USA, ein zuverlässiger Erfolgsgarant. Er verbürge, dass "jedes Mal, wenn irgendwo eine soziale Krise ausbricht, die Rechte und nicht die Linke der Akteur ist, der dem Volkszorn Ausdruck verleiht". Den Ursprung der "Weniger Staat, mehr privat"-Doktrin verortet Graeber in der Ära Reagan/Thatcher; überraschender ist der Hinweis auf einen anderen Ahnherrn des erfolgreichen amerikanischen Anti-Etatismus, nämlich den Mehrfach-US-Präsidentschaftskandidaten George Wallace.

Linkes Dilemma

Fakt ist, dass die Linke so ständig in die Lage gezwungen wird, in einem demütigenden Rückzugsgefecht als Verteidigerin des ungeliebten Staatsbürokratismus aufzutreten. Um sich diesem Dilemma zu entwinden, empfiehlt ihr Graeber ein viel weiteres und den gegenwärtigen Gegebenheiten angemesseneres Bürokratieverständnis. Der wahre Tummelplatz der Bürokratie sei nämlich heute nicht in erster Linie der Staat, sondern jene aus der Verschmelzung von öffentlicher und privater Macht entstandene Einheit, deren Ziel es sei, "Wohlstand in Form von Gewinnen abzuschöpfen". Ein Beispiel für dieses Zusammenwirken von Staat und privat im Sinn einer "totalen Bürokratie" sieht Graeber etwa im (angloamerikanischen) Bildungswesen: Da wirken Kreditgeber und Anbieter von Bildungsdienstleistungen, die auf ihre Kosten kommen wollen, gemeinsam auf den Staat ein, damit dieser Regelwerke durchsetzt, die vor jeden halbwegs öffentlichkeitswirksamen Job das Erfordernis eines teuren Examens setzen: Hatten 1971 gerade einmal 58 Prozent der amerikanischen Journalisten einen College-Abschluss, so sind es heute satte 92 Prozent. Das ist freilich nur eines von Graebers Beispielen für eine "totale Bürokratie", die vom Finanzsektor aus in alle anderen Gesellschaftsbereiche wie Bildung, Wissenschaft oder öffentliche Verwaltung diffundiert ist und die sich durch ihr hohles Vokabular ("Vision", "Qualität", "Exzellenz", "Innovation", "strategische Ziele" etc.) zu erkennen gibt.

Während sich Graeber in seiner Analyse der latenten Gewaltandrohung, die das Funktionieren der "totalen Bürokratie" gewährleistet, auf klassisch-anarchistischem Terrain bewegt, gibt er sich bei der Erforschung der Frage, warum die anthropologische Durchdringung der Bürokratie bis dato zu wünschen übrig lässt, als fröhlicher Wissenschafter. Von grimmiger Komik ist sein Versuch, die bürokratischen Prozeduren zu beschreiben, denen er sich unterziehen musste, als seine Mutter zum Pflegefall wurde. Dass selbst ihm, als an "dichte Beschreibungen" gewöhntem Mann vom sozialanthropologischen Fach, manchmal die Worte fehlen, führt Graeber auch auf die abstoßende Langweiligkeit der bürokratischen Sphäre zurück, welche offenbar bei Dichtern wie Kafka, Borges oder David Foster Wallace mit seinem genialen Langeweilebeschreibungs-Romantorso Der bleiche König besser aufgehoben ist.

Sprunghaft und inspirierend

Der Charme von Graebers sprunghafter, aber inspirierender Darstellung liegt darin, dass der Autor seine Agenda niemals in eiferndem Tonfall vorträgt und in der Wahl seiner Thesen und Beispiele immer für eine Überraschung gut ist. Der Doktrin vom unaufhaltsamen technologischen Fortschritt der Menschheit hält er eine imposante Liste von Zukunftsvisionen entgegen, die sich nicht erfüllt haben: Es gibt keine fliegenden Autos, keine Kolonien auf dem Mond, und von Stanley Kubricks Vorstellung, wie die Welt im Jahr 2001 aussehen könnte, ist gerade einmal das Satellitentelefon Wirklichkeit geworden (kein Zufall, meint Graeber, weil der Kapitalismus entgegen gängiger Meinung die technischen Produktivkräfte nicht nur entfesselt, sondern ebenso sehr bürokratisch gängelt und hemmt). Mit Einlassungen über das Postwesen als historische Blaupause für bürokratische Organisationen aller Art überrascht der Autor ebenso sehr wie mit einer Schilderung der bürokratischen Verfasstheit der mittelalterlichen christlichen Kosmologie (strenge Engelshierarchie mit den Seraphim an der Spitze!). Wie sehr Graebers Buch einer neuen "linken Bürokratiekritik" auf die Sprünge helfen kann, wird sich erst weisen müssen. Dass es sich dabei um eine politisch und intellektuell wichtige Aufgabe handeln würde, macht dieses Kompendium unorthodoxer Gedanken aber schon jetzt deutlich. (Christoph Winder, 8.3.2016)