London hat seit der industriellen Revolution einen Kanal. Heute ist er ein Hort der Ruhe – meistens. Touristen drängen sich höchstens bei der Schleuse in Camden, sonst nutzen in erster Linie Einheimische die Wege am Wasser. "Man kann hier sehr gut den Bussen und Autos entkommen, von denen es in London nicht wenig geben soll", scherzt Martin Sach vom Canal Museum.

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Am Regent's Canal entkommt man dem Londoner Verkehrschaos und kann ausgedehnte Spaziergänge unternehmen.

Abseits der üblichen Sightseeing-Pfade lohnt sich ein Spaziergang am Regent's Canal bis ins ausgeflippte Camden, wo Punk-Accessoires von einst zum Ramsch von heute mutiert sind. Von der Paddington Station als Ausgangspunkt kommt man schnell nach Little Venice, auch als Maida Vale bekannt, wo man sich an Amsterdam erinnert fühlt. "Es ist chic geworden, in einem Hausboot zu leben, weil die Mieten in London so hoch sind", erzählt Sach.

Polenta-Kuchen und andere Träume

Bevor man über die seit den 1960er-Jahren zunehmend für die Öffentlichkeit freigegebenen, ehemals privaten Fußwege bei Primrose Hill und dem Regent's Park vorbei bis zum Markt in Camden spaziert, stärkt man sich am besten im Waterside Cafe, einem zum Kaffeehaus umgebauten Boot. "Den Orangen- und Polenta-Kuchen kann ich sehr empfehlen, aber eigentlich sind alle unsere Mehlspeisen ein Traum", sagt die Dame an der Kassa. Auch die "Home Made Feta and Spinach Pastry" für den größeren Hunger schaut verlockend aus.

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Auch Graffiti-Künstler haben die Londoner Kanäle längst für sich entdeckt.

Die Kanäle ermöglichten es, Waren von Seehäfen ins Landesinnere zu transportieren. Manch einer ist dadurch reich geworden, etwa der Schweizer Auswanderer Carlo Gatti. Er ließ ab 1857 unterirdische Lagerräume für aus Norwegen importiertes Eis am Kanal anlegen. In Zeiten vor Erfindung des Kühlschranks war Eis ein begehrtes Gut bei betuchten Städtern. In einem der ehemaligen Lagerhäuser ist mittlerweile das Canal Museum untergebracht, ein Eis-Depot kann man dort auch sehen. Ab 1904 besaß London dann die Technologie, selbst Eis herzustellen.

Türen zu wegen der Ratten

Man kann sich am Kanal kaum verlaufen, nur einmal, auf dem Weg nach Little Venice, muss man aufpassen, nach dem Queren einer Straße den Wasserlauf wieder zu finden. In London kein Problem: "Darf ich helfen, Darling?", fragt eine Passantin den im Stadtplan versunkenen Touristen. "Kommen Sie, ich habe denselben Weg, ich wohne am Wasser. Sie gehen bis Camden? Wunderbar! Sie werden am Kanal viele nette Menschen treffen", schwärmt die Frau von ihrer Wohngegend. Mit einer Einschränkung: "Ich lasse auch im Sommer die Türen zu, wegen der Ratten."

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Einige Londoner haben den Kanal als Wohngegend entdeckt und sich auf Hausbooten einquartiert.

Das kann Martin Sach nicht nachvollziehen. "Ratten? Also im Kanal leben viele Tiere, aber eigentlich keine Ratten. Der Kanal ist aus Beton, da können sich die Nager nicht eingraben, darum bleiben sie fern."

Rockstars und ihre Yoga-Lehrer

Hyänen und Wildschweine erspäht man da schon eher. Am Abschnitt, der am Regent's Park vorbeiführt, spaziert man nämlich an der Rückseite des Londoner Zoos vorbei – mit freiem Blick ins Gehege dieser Tiere. Bei ausreichender Zeit lohnt ein Abstecher nach Primrose Hill, wo sich "Rockstars, Schauspielerinnen und deren Yoga-Lehrer", wie die Touristiker von Visit London werben, in exklusiven Boutiquen und beim Bio-Greißler treffen. Von einem Aussterben der Gastronomie ist trotz Rauchverbots und saftigen Preisen für das Pint nichts zu spüren, die gestandenen Pubs sind vielleicht weniger geworden, dafür boomen In-Lokale.

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Amy Winehouse wohnte in Camden. Heute erinnert dort eine Statue an die Musikerin.

Im Frühling und Sommer geht es am Wasser, wenn Ausflugsboote um Gäste buhlen, mitunter recht geschäftig zu. Bis 1920, also bis zur Einführung des Dieselmotors, wurden Frachtschiffe mit Pferden durch den Kanal gezogen. Heute kann man auch paddeln, das Pirate Castle bietet Kanukurse an. Man kommt aber auch zu Fuß an einer Gedenkstätte für Amy Winehouse vorbei, die in Camden wohnte. Aufwendig renovierte Lagerhäuser, in die fesche Appartements integriert wurden, zeugen vom Interesse an Raum am Kanal.

Lagezuschlag für den Kanal

"Früher wollte hier niemand leben", sagt Martin Sach. "Die Leute, die am Kanal arbeiteten, schliefen oft in Booten ohne jeglichen Komfort. Es gab nicht einmal Klos. Unser Museum zeigt eine solche karge Unterkunft. Sollte ein Objekt am Kanal verkauft werden, verschwiegen die Makler, dass es am Kanal lag. Heute werden auf Wohnungen am Kanal automatisch 20 Prozent aufgeschlagen."

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Lange Zeit verschwiegen Makler die Lage eines Objekts am Kanal. Heute wird automatisch 20 Prozent Lagezuschlag kassiert.

Little Venice und der Regent's Canal sind bei jeder Jahreszeit lohnenswert. In strengen Wintern war es zu viktorianischen Zeiten angesagt, in einem Tunnel auf dem zugefrorenen Kanal eiszulaufen. Die Schlittschuhe zur Kanaltour mitzubringen, hat aber wenig Sinn. "Den letzten schlimmen Winter erlebte London 1963, damals war ich acht", erinnert sich Sach. "Mein Vater hat mich zur zugefrorenen Themse mitgenommen und gesagt: 'Das wirst du nie wieder erleben.' Vermutlich hatte er recht." (APA, red, 7.3.2016)