Below Elsewhere’s Palm Trees: Stoffe seien für sie "die beste Lektüre", sagt die Künstlerin Nilbar Güreş. Dieses Bild entstand 2012 in New York auf Governors Island. Güres analysiert in gesellschaftliche Konstruktionen von Geschlechterrollen und kollektiven Identitäten vor dem sozialen, kulturellen und religiösen Hintergrund. Die Stoffbahn symbolisiert Freiheitseinschränkung für beide – egal, ob im Minirock oder mit Kopftuch.

Foto: Courtesy the Artist; Galerie Martin Janda, Wien; Rampa, Istanbul

Die Geschlechterverhältnisse sind kompliziert, vielleicht so kompliziert wie nie zuvor. Zwar gilt die Gleichberechtigung der Geschlechter in großen Teilen der westlichen Welt als unstrittiger Wert. Und trotzdem: Die Lohnschere gilt vielen als hartnäckige Lüge. Junge Frauen lassen sich in einer TV-Model-Castingshow mit Honig übergießen, im Bikini. Und aktuell besonders präsent: die unfassbaren Zahlen an sexualisierter Gewalt an Frauen. Eine der großen Erzählungen der Moderne – die der Gleichstellung der Geschlechter – hat ihre Schönheitsfehler.

Einfacher wird es auch nicht dadurch, dass die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen noch schiefer werden, wenn der soziale Hintergrund kein mittel- oder oberschichtiger ist, sexuelles Begehren nicht hetero, die Hautfarbe nicht weiß und Geld nicht da ist. Geschlechterverhältnisse sind ökonomische, soziale, bildungspolitische oder sexuelle Verhältnisse. Doch spätestens seit der Silvesternacht 2015/2016 scheinen sie vor allem eines zu sein: kulturelle Verhältnisse.

Fragen über "den arabischstämmigen Mann" dominieren seit Jahresbeginn die Debatte über Gewalt gegen Frauen. Wie hat ihn seine Kultur geprägt, sein Frauenbild, seine Sexualität, seine Bereitschaft zur Gewalt gegenüber Frauen? Und ein weiteres Debattenphänomen brachten die massenhaften Übergriffe auf Frauen in Köln mit sich: Plötzlich war jenen die Stimme von Feministinnen zu leise, die sie ansonsten stets als zu laut, zu übertrieben empfanden. Jetzt wäre doch der richtige Zeitpunkt für Empörung, hieß es nun.

Kulturalismus gegen Kulturrelativismus

Viele Feministinnen antworteten auf diese Erregungsanordnung mit dem Vergleich mit den zahlreichen Übergriffen auf den Oktoberfesten jedes Jahr. Was ist mit der dort herrschenden Gewalt, mit der Anordnung an Kellnerinnen, einem Gast keinen Stress wegen seiner grapschenden Hände zu machen? Was mit den Erfahrungen jeder dritten Frau in Europa mit körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt, damit, dass jede Zwanzigste angibt, schon einmal vergewaltigt worden zu sein, Zahlen, die es bisher nie so recht zum Skandalon brachten?

Nichts scheint sich mehr zu bewegen. Stillstand zwischen der Meinung, eine bestimmte Kultur bringe eher Sexualstraftäter hervor, und der, dass in unserer Kultur mindestens so vieles im Argen liege. Kulturalismus gegen Kulturrelativismus. Das Lob auf den westlichen Fortschritt, der verteidigt werden muss, steht unversöhnlich einer anderen großen Erzählung gegenüber, der der Postmoderne: Wir nehmen die Entwürdigung beherzt selbst in die Hand. Denken wir an die freiwillige Honigdusche. Die Unterdrückerinnen, das sind wir selbst. Weit sind wir gekommen, wir sind um nichts besser.

Ein Rückblick in die 1990er-Jahre bringt wenig Hoffnung, aus dieser Sackgasse herauszukommen. Der Politikwissenschafter Samuel Huntington beschrieb in seinem umstrittenen Buch The Clash of Civilizationsaus dem Jahre 1996 eine Verschiebung der Konfliktlinien, die sich nach Ende des Kalten Krieges von ideologischen hin zu kulturellen Konflikten verlagern würden. Seine Kollegin Susan Moller Okin fragte drei Jahre später in ihrem Essay Is Multiculturalism Bad for Women? nach der Gefahr von Kulturkonflikten für Frauenrechte. Für Kritikerinnen und Kritiker dieser Warnungen vor Kultur stand schon in dieser früheren Runde des Streits fest, dass das Denkfundament von Kulturen als geschlossenen Systemen, die sich kämpferisch gegenüberstehen, brüchig ist.

Auch zwanzig Jahre später ist der Tenor aus den Kulturwissenschaften und den Genderstudies gegenüber dieser Vorstellung von Kultur sehr kritisch. Die Rede von Kultur sei mehr Nebelwerfer denn nützliches Instrument zur Analyse.

Keine Doppelstandards

Daher forderten viele Feministinnen: keine Entschuldigung, aber auch keine Pauschalverurteilung aufgrund eines Passes, sozialer und geografischer Herkunft oder Religion. Keine Doppelstandards aufgrund von alldem, was lose und willkürlich unter dem Begriff Kultur läuft. Mal gilt Kultur vor allem als Religion, mal als schichtspezifisches Merkmal, mal ist es die geografische Herkunft. Doch wie sehr diese Doppelstandards bestehen, zeigten die vergangenen Wochen.

Ein österreichischer Journalist eines Kleinformats schrieb auf Twitter unmittelbar nach Köln: Es sei doch wohl ein Unterschied, ob eine Frau "Aufmerksamkeit von einem anerkannten Politiker" bekomme (gemeint war die Journalistin Laura Himmelreich, die 2013 dem deutschen FDP-Politiker Rainer Brüderle verbale sexuelle Belästigung vorgeworfen hatte, Anm.) oder ob sie von "Ausländerhänden begrapscht" würde. Wann es sich um Sexismus handelt, wann um Gewalt, wollen neuerdings Spontanfeministen bestimmen: Wenn es "unsere" Frauen sind – man beachte den so ausgedrückten Objektstatus von Frauen – und wenn die Täter "andere" sind. Sexismus und Rassismus in lieblicher Umarmung.

Doch es geht auch subtiler. So eröffnete die inzwischen von vielen Feministinnen kritisierte Frauenrechtlerin Alice Schwarzer im Februar eine Podiumsdiskussion in Wien mit dem Porträt eines Syrers, der eine Frau am Kölner Hauptbahnhof vor gewalttätigen Männern gerettet hat. Wenige Minuten später erzählte sie von einem Gespräch mit einem Kölner Polizisten, der ihr – Jahre vor den Übergriffen in der Silvesternacht – erklärt habe: 70 bis 80 Prozent der Vergewaltiger sind Türken. Genaueres zu dieser Aussage erfährt das Publikum nicht, doch die Zahlen hängen in den Köpfen. Positive Beispiele von rechtschaffenen Migranten werden als Ausnahme präsentiert, die allerdings eine Regel bestätigen sollen.

Die aktuelle Vorsicht bei pauschalisierenden Bildern von Sexualstraftätern bei jenen, die sich schon lange gegen sexualisierte Gewalt einsetzen, hat also Gründe. Aber führen die Hinweise im Zuge von Köln auf bestehende hiesige Probleme, Stichwort Oktoberfest, nicht zu Recht zu dem Vorwurf, den konkreten Fall nicht sehen zu wollen? Mit den bestehenden Mängeln in "unserer" Kultur Missstände zu relativieren?

Debattenbremse Kultur

Der Kulturrelativismus nutzt dieselbe Idee von Kultur wie der Kulturalismus, beantwortet die Politikwissenschafterin María do Mar Castro Varela die Frage, warum eine Diskussion zwischen diesen beiden Seiten nicht vom Fleck kommt. Wer "deren" Kultur mit den Mängeln in "unserer" Kultur zu verteidigen sucht, hängt demselben Bild von Kultur als einheitlichem Gebilde nach.

Fest steht: Die Rede von Kultur heizt die Debatten um Frauenrechte an. Die enorme Herausforderung einer weltweiten Durchsetzung von Frauenrechten vermag sie aber nicht weiterzubringen. Dafür braucht es starke universelle Bündnisse zwischen Aktivistinnen, keine Endlosdiskussionen entlang diffuser Schlagwörter. Einfacher wird diese Ausweitung der Kampfzone für globale Frauenrechte sicher nicht. Doch dass es unkompliziert ist, hat auch nie jemand behauptet.

Below Elsewhere's Palm Trees: Stoffe seien für sie "die beste Lektüre", sagt die Künstlerin Nilbar Güres. Dieses Bild entstand 2012 in New York auf Governors Island. Güres analysiert gesellschaftliche Konstruktionen von Geschlechterrollen und kollektiven Identitäten vor dem sozialen, kulturellen und religiösen Hintergrund. Die Stoffbahn symbolisiert Freiheitseinschränkung für beide – egal ob im Minirock oder mit Kopftuch. (Beate Hausbichler, 4.3.2016)