Die Grundströmungen der heutigen Wirtschaftsentwicklung führen zu einer sozialen Polarisierung. In einer Wirtschaft, die weltweit nur noch mit drei statt mit fünf Prozent – wie vor der Finanzkrise – wächst, verdoppelt sich das Bruttosozialprodukt nur noch etwa alle 24 statt alle 15 Jahre. Der Verteilungskampf wird härter.

Zusätzlich sind die Karten in diesem Verteilungskampf in den Zeiten der vierten industriellen Revolution mit zunehmender Digitalisierung, Robotisierung, dem Aufkommen künstlicher Intelligenz, aber auch neuen Anforderungen an Jobsuchende anders gemischt. Die Trümpfe haben diejenigen in der Hand, die Zugang zu den besten Talenten, Innovationen und Wagniskapital haben. Verlierer sind diejenigen, die auf Arbeitseinkommen vor allem im mittleren Einkommensbereich angewiesen sind. Der traditionelle Mittelstand wird zunehmend ausgehöhlt. In der Folge radikalisiert sich die Gesellschaft und wird empfänglich für populistische Kräfte mit ihren vermeintlich einfachen Lösungen.

Diese Entwicklung kann man bedauern, aber wahrscheinlich wird sie sich noch beschleunigen. Sie wird es zunehmend schwierig machen, Kapitalismus in seiner heutigen Form als gesellschaftstragende Ideologie zu rechtfertigen. Aber auch die letzten Wahlen in verschiedenen europäischen Ländern zeigen, dass Kritik an etablierten Kräften Konjunktur hat.

Dieses Problem betrifft nicht nur Politiker und Parteien. Es ist eine große Herausforderung für jeden, der Verantwortung in der Wirtschaft trägt, denn der Ruf nach sozialer Verantwortung der Unternehmen wird lauter und dies in einer Zeit, in der Unternehmen immer höherem Wettbewerbsdruck und damit Kostendruck ausgesetzt sind.

Wir wissen, dass wirtschaftliches und letztendlich soziales Gedeihen eine freiheitliche Marktordnung voraussetzt. Alle Alternativen zum sogenannten Kapitalismus haben in der Praxis mit Pauken und Trompeten versagt. Die Antwort ist also nicht der Rückfall in eine andere Wirtschaftsordnung, sondern die Eliminierung der Faktoren, die unsere jetzige Wirtschaftsordnung untergraben. Dazu gehört vor allem eine bessere und modernere Definition des Unternehmenszweckes.

Der Begriff Kapitalismus suggeriert automatisch Kapitalvermehrung als einzigen Zweck eines Unternehmens. Lediglich eine gewissermaßen freiwillig wahrgenommene und von Wirtschaftswissenschaftern wie Prof. Milton Friedman umstrittene soziale Verantwortung federt diese einseitige Ausrichtung ab.

Wir müssen uns wieder daran erinnern, dass ein Unternehmen eine Gemeinschaft ist und dabei in unserer Rechtsordnung, zumindest bei größeren Unternehmen, mit einer eigenen selbstständigen Identität ausgestattet ist.

Im Stakeholderkonzept, das ich vor über 40 Jahren in einem Buch entwickelt habe, ist die Unternehmensleitung allen Stakeholdern, das heißt der mit dem Unternehmen verbundenen Gemeinschaft gegenüber verantwortlich. Diese umfasst nicht nur die Aktionäre, sondern auch die Mitarbeiter, die Kunden, die Kreditgeber und den Staat, also alle, deren Schicksal direkt mit dem Schicksal des Unternehmens verknüpft ist .

Natürlich gibt es Spannungen und voneinander abweichende Zielvorstellungen unter den Stakeholdern, aber langfristig vereint alle ein gemeinsames Ziel: die Stärkung des Unternehmens in Form von Wachstum und gesteigerter Rentabilität. Wenn die Unternehmensführung sich auf dieses Ziel konzentriert, wird jeder Beteiligte letzten Endes seine Wünsche optimal, wenn auch nicht unbedingt maximal erfüllt sehen.

Voll integrieren

Im Stakeholderkonzept hat das Management die treuhänderische Pflicht, sich einzig auf das langfristige Wohl des Unternehmens zu konzentrieren. Manager sollten diesen Ansatz in ihre Denkweise voll integrieren, wenn sie die Daseinsberechtigung des Kapitalismus stärken und traditionelle, begrenzte Ansätze sozialer Verantwortung auf die nächste Stufe heben wollen. Die gesellschaftliche Ausrichtung von Unternehmen darf nicht nur eine Option sein, eine zusätzliche weltverbessernde Komponente. Sie muss in einem langfristig ausgerichteten unternehmerischen Führungskonzept verankert sein.

Jeder Manager muss deshalb bereit sein, diese Interessen auch gegenüber Aktionären durchzusetzen. Nachhaltig orientierte Anleger werden sie oder ihn darin unterstützen. Denn das Problem heute ist nicht so sehr der Kapitalismus als liberale Gesellschaftsform, sondern die einseitige Ausrichtung auf kurzfristige Anforderungen der Shareholder und das daraus resultierende kurzfristige Denken.

Es mag paradox erscheinen, eine gesellschaftlich ausgerichtete unternehmerische Denkwei-se im heutigen, wirtschaftlich schwierigen Umfeld einzufordern, aber gerade jetzt ist es unabdingbar, den zunehmenden Kritikern des Kapitalismus ein Konzept entgegenzustellen, das von allen Stakeholdern getragen ist und von dem die gesamte Gesellschaft profitiert. (Klaus Schwab, 14.3.2016)