"E.E.G. Kiss" (2016) von Karen Lancel und Hermen Maat misst die Hirnströme beim Schmusen. Erstens, damit man besser sehen kann, ob sie eh synchron laufen. Und zweitens, damit man sie besser "teilen" kann. Die Daten landen nämlich auch auf der Webseite des Duos.

Foto: Lancel / Maat

Wien – Manchen Lesern dürften die einzelnen Buchstaben dieses Textes in bunten Farben erscheinen. Bei anderen mag der Anblick der bloßen Kopfformen im Bild rechts Geschmacks- oder Geräuschempfindungen mit sich bringen. Falls dem bei Ihnen nicht so ist, wäre es aber kein Wunder: Nur etwa jeder Tausendste erlebt Synästhesie, also das Phänomen untrennbar gekoppelter Sinneswahrnehmungen. Es dürfte auf "Kurzschlüsse" zwischen Gehirnarealen zurückzuführen sein, wobei theoretisch alle Kombinationen von Sinnen möglich sind.

Dass es neben der seltenen, gehirnphysiologisch nachweisbaren auch eine Synästhesie gibt, die jeden von uns betrifft, das war nun eine Prämisse des künstlerischen Forschungsprojekts Digital Synesthesia. Dessen Ergebnisse präsentiert die Universität für angewandte Kunst aktuell im Angewandte Innovation Laboratory (AIL). Im Brennpunkt des von Ruth Schnell, Katharina Gsöllpointner und Romana Schuler geleiteten Projekts, das drei Jahre dauerte und an dem 17 internationale Medienkünstler beteiligt waren, stand jene ausgelagerte Form "verschmolzener Sinneseindrücke", die die multimediale Welt mit sich bringt respektive uns aufzwingt.

Der Medientheoretiker Mitchell Whitelaw sieht diese "allgegenwärtige Synästhesie" etwa dort, wo Musiksoftware mit ihrem "Visualizer" einen Klang unmittelbar in Bilder umrechnet – man denke an den Windows Media Player. Freilich gab es interdisziplinäre Übertragungen zwischen den Künsten schon früher. Genuin neu ist für Whitelaw aber, dass die Übersetzung von einem Sinnenbereich in einen anderen heute über die Zwischenstufe computerisierter Digitalisierung geschieht: Klang wird binärer Code aus Nullen und Einsen, Code wird Bild.

Der Klang der Gene

Einen umgekehrten Übersetzungsvorgang thematisieren im AIL Tamiko Thiel und Christoph Reiserer. Ihre Installation I Am Sound (2016) fotografiert zunächst das Gesicht des Betrachters, dann macht sie die Pixel zur Partitur. Je nach den Grauwerten werden beim Abscannen des Bildes die Metallplatten der Installation anders zum Klingen gebracht. Wie die Übersetzung exakt funktioniert, ist nicht offensichtlich – ein Verweis wohl darauf, dass uns Algorithmen im Alltag oft auf genauso undurchschaubare Weise in Daten ummünzen.

Zur Essenz wird die Undurchschaubarkeit in Marcello Mercados so opulentem wie absurdem Bestiary for the Minds of the 21st Century, Untertitel Genomic Opera: Der Künstler übertrug zunächst DNA-Codes in Sound, dann druckte er dessen Spektren in 3-D aus. Mit den Objektprints klebte er bunt wuchernde Collagen, bei denen er auch nicht auf die Plastikrestln aus dem 3-D-Drucker vergaß. Eh klar, eigentlich – denn "auch im Gencode gibt es Mutationen". Als Tüpfelchen auf dem i verwandelte Mercado die fertigen Collagen seiner "Arche Noah" wieder in Klänge.

Der Erkenntnisgewinn bei diesem Unterfangen? Nun, in der künstlerischen Forschung ist auch Platz für Humor. Wissenschaft und Kunst sollen in dieser beliebten Disziplin ja ihre Kräfte vereinen, die rigide Methodik der einen mit dem Spielerisch-Poetischen der anderen zusammenfinden. Zur Förderung "kunstbasierter Forschung" hat der Wissenschaftsfonds FWF auch das Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste (Peek) eingerichtet, an dem auch Digital Synesthesia mitnaschte.

Und wer wäre besser geeignet, Wahrnehmungsfragen zu behandeln, als die (digitale) Kunst selbst? Diese Frage stellt man sich im AIL angesichts von 14 Positionen, die hier die Situation der Sinnlichkeit in Zeiten von Big Data reflektieren. Darunter sind große Namen wie etwa Jeffrey Shaw, der in einem reduzierten Setup einlädt, die Diashow in einer Virtual-Reality-Brille per Zunge (!) zu steuern. Oder Peter Weibel, der bei den Basics ansetzt und im Prinzip einen Sampler zeigt, also ein Musikinstrument, das auf Knopfdruck Audiodateien abspielt (und visualisiert). Zu den spannenderen Erfahrungen gehört Anke Eckardts Vertical 2: ein nach oben und unten verspiegelter, also "endloser" Raum, in dem Geräusche subtil mit Hall versehen werden. Wer länger verweilt, begreift tatsächlich ein wenig, wie sich die Wahrnehmung von digitalen Medien verführen lässt. (Roman Gerold, 16.3.2016)