María do Mar Castro Varela fordert eine weitere Ermächtigung von Frauen und weist die Rufe nach dem Schutz der Frauen durch "ihre" Männer als reaktionär zurück.

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STANDARD: Seit den Ereignissen in der Silvesternacht in Köln sind über zwei Monate vergangen. Wie schätzen Sie die Entwicklung des Diskurses über sexualisierte Gewalt aus dieser zeitlichen Distanz ein?

Castro Varela: Der derzeit herrschende Diskurs kann nur als ein sehr geschlossener bezeichnet werden, bei dem im Grunde rechts und links immer wieder kulturalistisch argumentiert wird. So wird versucht, die Vorfälle in der Silvesternacht vor einer rassistischen Instrumentalisierung zu schützen, indem gesagt wird, dass es unerheblich sei, dass die Täter anscheinend zu einem großen Teil Arabisch sprachen, denn Sexismus gibt es ja auch in Europa. Das stimmt, ist aber nicht wirklich eine Analyse. Das Problem ist doch eher die Kulturalisierung sexistischer Taten. Wenn ich daran denke, dass meine Kollegen aus Marokko oder etwa der Türkei jetzt mit Männern gleichgesetzt werden, die auf die Kölner Domplatte gehen, Frauen bestehlen und begrapschen – dann ist das eben eine Ungeheuerlichkeit. Gleichzeitig sind die deutschen und österreichischen Kollegen anscheinend vor jedem Sexismus erhaben.

STANDARD: Es gibt also keine kulturellen Unterschiede?

Castro Varela: Natürlich gibt es Unterschiede. Ich bin auch nicht dafür, zu sagen, das, was in Köln passiert ist, ist genauso wie im Karneval, wo sexualisierte Übergriffe immer an der Tagesordnung sind, ja gerade zur Festivität dazugehören. Aber wir müssen sehen, dass Sexismus und sexistische Gewalt globale Probleme sind. Männlichkeitsrituale, die zum Ziel haben, Frauen zu demütigen und auf "ihre Position" zu verweisen, finden wir überall auf der Welt. Und doch gibt es natürlich Unterschiede, wie stark diese zu ächten sind, wie diese gesellschaftlich problematisiert werden, wie die Gewalt gegen Frauen rechtlich geschützt oder angegriffen wird et cetera.

STANDARD: Wann wird aus kulturellen Zuschreibungen Rassismus?

Castro Varela: Bereits in den 1990er-Jahren waren Theorien weit verbreitet, die von einem "Kulturrassismus" oder von "Neuem Rassismus" sprachen. In Deutschland und auch in Österreich ist das Sprechen über Rassismus stärker aufgeladen als in anderen Ländern, daher erscheint es sinnvoll, den problematischen "Rassebegriff" zu überdenken. Doch der Begriff des "Kulturrassismus" macht aus einem anderem Grund Sinn. Kulturalistische Argumentationsstrukturen supplementieren rassistische Praxen. Das Sprechen von der arabischen Kultur essenzialisiert eine Gruppe, sodass ein einziger Vorfall sogleich rassistische Stereotype nicht nur bestätigt, sondern rassistische Argumentationen und Praxen auch legitimiert. Kulturelle Zuschreibungen beinhalten deswegen immer rassistische Bilder. Sie legen fest, wie jemand ist, bevor dieser die Möglichkeit hat, auch noch ein Wort zu sagen. Und natürlich wird gleichzeitig die eigene Gruppe positiv beschrieben. Europäische Männer seien zivilisiert, lautet dann die Annahme, die würden so etwas wie in Köln nicht tun.

STANDARD: Welche Beispiele gibt es für die Instrumentalisierung von Frauen für rassistische Zwecke?

Castro Varela: Die Schriften von Angela Davis beispielsweise zum "Prison Industrial Complex" machen deutlich, wie seit der Abolition der Sklaverei in den USA afro-amerikanische Männer immer als potenzielle Vergewaltiger gesehen werden. Eine Konsequenz solcher Diskurse ist, dass schwarze Männer schneller und oft auch ohne genügend Indizien verurteilt werden, während umgekehrt weiße Männer eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, nicht verurteilt zu werden.

Es ist daher sehr wichtig, die Kontinuitäten rassistischer Diskurse transparent zu machen. So haben bekanntlich die Briten die Kolonialisierung Indiens unter anderem damit legitimiert, dass die indigenen Frauen unterdrückt würden und dass es deswegen wichtig sei, diese zu befreien. Es gehe nicht um die Ressourcen, nicht um die Annektierung von Territorien, so die wahnwitzige Argumentation. Es sei jedoch die moralische Pflicht des weißen Mannes, diese Frauen zu befreien. Es gibt hier eklatante Ähnlichkeiten mit dem Migrationsdiskurs oder auch den Argumentationen zu militärischen Interventionen. Denken wir etwa an europäische Politiker, die ansonsten wirklich alles tun, um eine feministische Politik zu blockieren, doch wenn es um Frauen geht, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, geradezu zu Feministen mutieren, die unbedingt die Frauen befreien wollen. Die enge Verquickung von Sexismus und Rassismus ist evident und historisch nachzuvollziehen. Das Problem für die feministische Theorie und Praxis ist, diese Verlinkung zu erkennen und dieser Instrumentalisierung zu widerstehen. Es geht nicht, dass hegemoniale Feministinnen wie etwa Alice Schwarzer antimuslimisch daher chwatzen und wir dies für eine progressive Argumentation halten.

STANDARD: Wie werden sie aufrechterhalten?

Castro Varela: Es ist wichtig, globale Ungerechtigkeitsstrukturen zu analysieren. Das muss differenziert und historisierend geschehen. Wir müssen uns etwa fragen, welche Formen nimmt Sexismus in autoritären Systemen an und welche in einer Demokratie. Welche Formen der Artikulationen des Widerstands dagegen sind wo und wie möglich? In Ländern wie Deutschland und Österreich, wo die Frauenbewegung recht stark war, hat dies natürlich positive Effekte gezeitigt. Länder, die keine starken sozialen Bewegungen hatten, zeigen womöglich andere öffentliche sexistische Praxen, die in Europa befremden. Wobei wir festhalten müssen, dass viele dieser Errungenschaften im Westen gerade wieder abgebaut werden, es gibt nicht nur Kürzungen für Frauenhäuser, für Beratungsstellen, auch die Gender Studies werden immer häufiger öffentlich belächelt oder als nichtwissenschaftlich abgetan. In einem Klima, in dem immer mehr Menschen davon überzeugt zu sein scheinen, dass das Problem mit dem Sexismus in einem ursächlichem Zusammenhang mit der Aufnahme geflüchteter Menschen steht, ist es absolut notwendig, postkolonial-feministische Analysen ernst zu nehmen. Es ist nicht so einfach, festsitzenden Vorurteilen das Wasser abzugreifen. Im Gegenteil, rechte PopulistInnen wissen sie brillant für ihre Zwecke zu nutzen.

STANDARD: Sie kommen aus Spanien, wo es massive Probleme mit Gewalt gegen Frauen gibt.

Castro Varela: Wir haben in Spanien fast jedes Jahr an die 200 Fälle von Frauen, die von ihren Lebenspartnern ermordet werden. Das ist eine erschreckende Zahl und ein Symptom. Europa gibt vor, dass Frauen dieselben Chancen haben wie Männer; dass die Frauenemanzipation vollendet wurde und der Kampf gegen Sexismus nur von historischem Interesse sei. Das stimmt eben nicht.

STANDARD: Was wäre jetzt wichtig?

Castro Varela: Eine weitere Sensibilisierung der Gesellschaft. Es wird immer öfter so getan, als ob das Thema erledigt wäre, dabei sehen wir doch, was für einen enormen Backlash es gibt. Doch insbesondere scheint es mir wichtig, die Zusammenhänge zwischen Rassismus und Sexismus weiter genauer zu betrachten. Da gibt es noch einiges zu tun. Die aktuelle Situation muss aber auch dringend dafür genutzt werden, um auf die Gewaltverhältnisse in der Gesamtgesellschaft aufmerksam zu machen. Es muss eine weitere Ermächtigung von Frauen gefordert werden. Und die Rufe nach dem Schutz der Frauen durch "ihre" Männer müssen als reaktionär zurückgewiesen werden. (Beate Hausbichler, Update vom 24.3.2016)