Wien – Wer dem Wahnsinn verfällt und dafür um Verständnis bitten möchte, muss dies rechtzeitig tun. Im Nachhinein liegt es an anderen, ein Urteil zu fällen. "Das Erlebte in diesen magischen Stunden war so überwältigend, dass ich seine Schönheit und Pracht nicht in angemessene Worte fassen kann", steht am Beginn dieses Films geschrieben. Es ist ein Tagebucheintrag des deutschen Anthropologen und Forschungsreisenden Theodor Koch-Grünberg aus dem Jahr 1909, und das Erlebte, von dem er fürchtete, dass es den "kompletten und unheilbaren Wahnsinn" bei ihm auslöse, war der Dschungel Amazoniens.

Der mögliche Fundort im Dschungel Amazoniens ist für den Suchenden kein Ziel: "Der Schamane und die Schlange" von Ciro Guerra.
Foto: Polyfilm

Der Schamane und die Schlange, dem sein geheimnisvoller Originaltitel El abrazo de la serpiente noch besser ansteht, ist ein Reisefilm; von äußerster Geradlinigkeit gekennzeichnet, verzweigt er sich dennoch wie die unzähligen Nebenflüsse des Amazonas, an dem sich dieses Abenteuer zuträgt, in unzählige Richtungen. Denn während die Reisenden ein klares Ziel vor Augen haben, dem sie langsam, aber beständig flussaufwärts näher kommen, führen sie ihre Gedanken und Gefühle gleichzeitig weg in entfernte Welten.

Zwei Forscher, auf der Suche nach einer seltenen Pflanze, sind auf die Hilfe eines Eingeborenen, eines Schamanen, angewiesen, der ihnen den Weg zum geheimnisumwitterten Fundort zeigen soll. Ob sie ihn erreichen werden, und davon erzählt dieser Film auf großartige Weise, liegt nicht an den Hindernissen, mit denen Fluss und Urwald ihnen das Fortkommen erschweren, sondern an den inneren Hürden der Suchenden. Doch im Gegensatz zu Joseph Conrads Meistererzählung sind diese Expeditionen keine in ein Herz der Finsternis – wenngleich so manche Station eine des Grauens darstellt -, sondern eine Reise ins Licht der Erkenntnis.

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Kenntnisreich und subtil verwebt der kolumbianische Filmemacher Ciro Guerra dieses stark europäisch geprägte Motiv einer Reise in die Wildnis mit zwei sich einander ständig überlagernden Erzählungen: Die an Theodor Koch-Grünberg angelehnte Figur des sterbenskranken Naturforschers Théo (Jan Bijovet) – unterwegs mit seinem assimilierten Begleiter Mancusa (Yauenkü Miguee) – betrachtet die Wunderpflanze als ihre letzte Rettung. Anders der Biologe Evan (Brionne Davis), dem US-Botaniker Richard Evens Schultes nachempfunden, der dreißig Jahre später den Spuren seines Vorgängers folgt und bei dem Wissenschaft und Eigennutz ineinander übergehen. Ihre Motive sind verschieden, ihr Weg und ihr Führer sind dieselben: Karamakate (Nilbio Torres als junger bzw. Antonio Bolivar als alter Schamane) hat bei der zweiten Expedition jedoch sein Wissen um die Zauberkünste – und damit seine kulturelle Identität – vergessen.

Blätter im Wind

Der kolonialistische Blick, mit dem das ethnografische Kino jahrzehntelang behaftet war, wird in Der Schamane und die Schlange radikal unterwandert: Cirro Guerra geht es nicht um die Darstellung einer fremden Kultur, sondern um eine Umkehrung der Sichtweise. An Fitzcarraldos Wahnsinn erinnert nur die Verblendung der Missionare, die mitten im Dschungel für die Ureinwohner eine Hölle auf Erden errichtet haben.

Beide Unternehmungen sind scheinbar unspektakulär, doch beide zeigen die ultimativen Grenzen des westlichen Forschungsdrangs auf. "Sie hierzulassen bedeutet, alles hierzulassen", meint der Europäer angesichts seiner Kisten, Beweisstücke für die Heimat, die er zurücklassen muss. Er wird lernen müssen, dass es in dieser Welt nicht um Beweise geht, sondern um Glauben.

Foto: Polyfilm

Die gestochen scharfen Schwarz-Weiß-Bilder, mit denen Guerra und sein Kameramann David Gallego das kleinste Kräuseln des Wassers und die leiseste Bewegung von Blättern festhalten, verleihen diesem Film eine durchdringende Klarheit. Auch in seiner verblüffenden Antwort auf die Frage, ob man sich bei seiner Suche in der Fremde überhaupt selbst finden kann. (Michael Pekler, 29.3.2016)