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Schriftstellerin Joanna Bator: "Natürlich bin ich eine polnische Autorin! Ich schreibe in der schönsten der europäischen Sprachen. Ich werde nie in einer anderen Sprache meine Prosa schreiben können."

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Joanna Bator, "Dunkel, fast Nacht". Roman, aus dem Polnischen von Lisa Palmes. € 25,70 / 511 Seiten. Suhrkamp/Insel- Verlag, 2016

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STANDARD: Der große tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal sagte mal: "Die jungen Dichter schreiben über den Tod und alte Knacker über junge Mädchen". Worüber schreibt denn Joanna Bator?

Joanna Bator: Über beides, würde ich sagen, auch über junge Mädchen. Die Protagonistin der früheren Romane Sandberg und Wolkenfern ist ein junges Mädchen, Dominika, später eine junge Frau.

STANDARD: Der Umschlag von "Sandberg" zeigt – eher ungeschickt – das Pendant der heutigen jungen Frauen, über die Sie schreiben. Spielen in Ihren Romanen Frauen die Hauptrolle?

Bator: Wenn man sie zählen würde, gäbe es in meinen Büchern mehr Frauen als Männer. Andererseits werden bei männlichen Autoren die Helden nicht dem Geschlecht nach unterschieden und gezählt.

STANDARD: Im Kommunismus waren die Frauen richtige Powerfrauen. Meine Großmutter und meine Tanten waren so. Meine Tante arbeitete zehn Stunden am Tag, ihr Ehemann lag ständig – betrunken – unter dem Tisch, und sie hatte trotzdem die Zeit, sich die Lippen zu schminken und zu lächeln. Kommen solche Frauen auch in Ihren Romanen vor?

Bator: In Sandberg beschreibe ich das Milieu von Bauersleuten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Städten Arbeit suchten. Das sind Frauen, die seit Generationen schwere Arbeit gewohnt sind, die auf diese Arbeit vorbereitet worden waren. Die Frauen in der Stadt strengen sich heute genauso an, wie sich ihre Mütter vor Jahren auf den Bauernhöfen anstrengt haben. Interessant ist allerdings, dass die Mehrheit dieser Frauen unter den neuen Verhältnissen den Arbeitsmarkt betreten hat. Sie sind doppelt belastet, sie arbeiten "Vollzeit zu Hause" und sind "vollzeitbeschäftigt im Beruf". In dieser Situation dieser falschen Emanzipation während des Kommunismus ist den Männern nicht einmal eingefallen, dass sie einen Teil dieser Pflichten hätten übernehmen können. Die blieben ausschließlich Frauen vorbehalten.

STANDARD: Hat sich diese Situation heute, in den Zeiten des Kapitalismus, geändert? Haben wir heute mit einer echten oder falschen Emanzipation zu tun?

Bator: Polen ist seit über 20 Jahren ein demokratisches Land. Vieles wurde erreicht, aber längst nicht alles. Wir haben keine vollkommene Gleichberechtigung der Geschlechter in Polen, die gibt es aber nicht einmal in skandinavischen Ländern. Aber die alten Muster werden brüchig.

STANDARD: Ihren Roman "Sandberg" haben Sie in Japan geschrieben. Ein Zufall?

Bator: Ich schreibe nie über Orte, an denen ich mich im Moment befinde. Für Sandberg fuhr so ich weit weg von Walbrzych, wie ich nur konnte, bis nach Tokio. Dort stellte sich heraus, dass mein Kopf voll mit Erinnerungen an Walbrzych war. Er verlangte von mir, damit irgendetwas zu machen. So habe ich den Roman geschrieben. In den ersten Jahren meines Erwachsenenlebens in Polen, nach dem Studium, war ich nur auf meine Doktorarbeit konzentriert und dachte, dass ich einfach weiter an der Universität arbeiten, unterrichten und forschen werde.

STANDARD: Sie dachten nicht ans Schreiben? Wollten nicht Schriftstellerin werden?

Bator: Nein. Ich tauchte auf wie ein Teufelchen aus einer Schachtel. Plötzlich schrieb ich einen Roman. Ich habe nie davon geträumt, Schriftstellerin zu werden. Aber wollte, als ich noch jung war, immer ein großartiges und schöpferisches Leben haben und nicht um eine bestimmte Uhrzeit in die Arbeit gehen müssen. Damals wusste ich aber nicht, dass man als Schriftstellerin keine arbeitsfreien Samstage und Sonntage hat. Dass man jeden Tag rund um die Uhr bei der Arbeit ist.

STANDARD: Man hat auch nie Urlaub. Es ist so, als hätte man ein Kind, das ständig nach einem ruft. "Sandberg" war Ihr erstes Kind. Was halten Sie von der Theorie, dass Debüts oft gut sind, weil sie von einem Taxifahrer oder einem Krankenpfleger verfasst wurden. Das zweite Buch ist meist weniger gut, weil es bereits von einem Schriftsteller verfasst wurde. Hatten Sie diesen Druck nach dem ersten Buch?

Bator: Nein, den habe ich erst bei meinem dritten Buch gespürt. Schon während ich Sandberg schrieb, keimte in meinem Kopf die Geschichte von Wolkenfern auf. Ungefähr ab der ersten Hälfte von Sandberg verliefen beiden Erzählungen parallel. Mein dritter Roman Dunkel, fast Nacht, der jetzt auf Deutsch erschienen ist, war für mich bis jetzt das anspruchsvollste und schwierigste Buch, das ich geschrieben habe. Ich fühlte mich wirklich unter Druck. Erst der dritte Roman machte mich fertig.

STANDARD: Das klingt nach einem Druck, der auf großer Selbsterwartung beruht.

Bator: Ich glaube, ich habe ein gutes Gleichgewicht zwischen Bescheidenheit und einem gesunden Selbstwertgefühl gefunden. Als ich zu schreiben begann, war ich schon eine reife Frau. Ich wusste mehr oder weniger, was ich emotionell und intellektuell leisten kann. Natürlich fühle ich mich manchmal unter Druck, etwa wenn jemand vom Verlag bei mir anruft.

STANDARD: Und unschuldig fragt, wie es Ihnen geht ...

Bator: Genau! Wie geht es? Gibt es schon neue Pläne? Natürlich gibt es ein ganzes Meer an Zweifeln, durch das man jeden Tag schwimmen muss. Manchmal wird man eher müde, als dass man in Ekstase gerät, aber das ist das, was Max Weber "Berufung" nennt.

STANDARD: Die polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska sagte einmal, Schreiben sei die "Rache der sterblichen Hand". Ist Ihr Schreiben die Flucht vor der Vergänglichkeit oder ein Heilmittel dagegen?

Bator: Weder noch. Es geht aus dem Bedürfnis hervor, zu verstehen.

STANDARD: Wenn jemand sagt, Sie seien eine polnische Autorin, sträubt sich da etwas?

Bator: Natürlich bin ich eine polnische Autorin! Ich schreibe in der schönsten der europäischen Sprachen. Ich werde nie in einer anderen Sprache meine Prosa schreiben können.

STANDARD: Ich hätte auch polnisch schreiben können, aber das Schicksal zwang mich, Deutsch zu schreiben. Dafür zahlt man einen Preis. Wenn ich auf Deutsch etwa Erdbeere schreibe, sehe ich eine Erdbeere, rieche aber nicht ihren Duft wie im polnischen "truskawka". In einer Fremdsprache verliert man den Geruchssinn, aber man bekommt dafür Distanz.

Bator: Das Schreiben in der Muttersprache bedeutet das Gefühl der Vertrautheit mit der Sprache, gleichzeitig aber auch das Gefühl ihrer Fremdheit. Als ob man etwas Seltsames und Unheimliches im Sinne Freuds in den Händen halten würde. Einer meiner Lieblingsautoren, Haruki Murakami, schreibt alle seine Texte zuerst auf Englisch, übersetzte sie dann ins Japanische, um seinen eigenen Stil zu erarbeiten. Auf diese Weise gewinnt er Abstand zu seiner eigenen Muttersprache.

STANDARD: Der bereits verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagte vor über 20 Jahren, dass die polnische Literatur so provinziell sei und deswegen von kaum jemandem gelesen werde. Was sagen Sie dazu?

Bator: Ich kenne die Texte von Reich-Ranicki nicht besonders gut. Aber er war provokant und arrogant und machte solche Bemerkungen sehr gerne. Ich habe die polnische Literatur nie für Provinz gehalten.

STANDARD: In Ihrem Werk kommt der Begriff Polyamorie vor. Was bedeutet das?

Bator: Unter Polyamorie versteht man kleine Gruppen von erwachsenen Menschen, die in einer Liebes- und Freundschaftsbeziehung zusammenleben, wodurch sie neue Formen vom Familienleben schaffen. Ich selbst bin aber aus einer Generation, die noch sehr an dem romantischen Konzept der Liebe hängt. Diese neuen Liebesformen sind für mich lauwarm. Sie sind zeitweilig, flüchtig und zerbrechen ohne großes Leiden.

STANDARD: Nicht nur deshalb leben wir in neuen Zeiten. In Polen haben wir auf einmal Kapitalismus, der seine Spuren hinterlässt. Wenn man sich die polnischen Künstler anschaut oder auch Künstler im Allgemeinen, merkt man, dass sie sich ihre Inspirationen außerhalb des Kapitalismus suchen. Sie fahren nach Afrika, weil Armut fotogener ist. Sie weichen in vergangene Zeiten aus, besuchen Kriegsgebiete etc. Ist die derzeitige Wirklichkeit so uninteressant, dass man über sie nicht schreibt?

Bator: Ich lebte in Warschau, im alten Teil des Stadtviertels Wilanów, wo sich die sogenannten "Lemminge" ansiedelten, junge, gut ausgebildete urbane Menschen, die in der Regel für Großunternehmen arbeiten und gut verdienen. Ich dachte mir, wie interessant das als Thema für einen neuen Roman sein könnte, während ich diese Menschen in ihren mit Hypotheken finanzierten Wohnungen mit schönen, aber unbelebten Kinderspielplätzen davor beobachtete. Interessant, aber irgendwie auch nicht für mich. Vielleicht in Zukunft ...

STANDARD: Wir leben hier in Europa unter sehr guten Bedingungen. Neulich sitze ich mit Bekannten in der Kneipe, da stellt sich heraus, dass drei davon die gleichen Antidepressiva nehmen. Steuern wir alle auf einen Abgrund zu?

Bator: Niemand hat uns versprochen, dass es ewig dauern wird. Hoffen wir aber, dass es nicht so schnell endet, dass ich es noch schaffe, ein paar weitere Bücher zu schreiben, einen Marathon zu laufen und ein Haus zu bauen. Aber ich persönlich vertrete auch eher eine katastrophische Zukunftsvision.

STANDARD: Martin Luther sagte: Wenn morgen die Welt unterginge, würde er heute noch schnell ein Apfelbäumchen pflanzen. Warum gibt es keinen Optimismus mehr?

Bator: Es sieht so aus, als würde ein durchaus negativer Geist herrschen. Daher muss man seine Apfelbäumchen pflanzen. Bis zum 45. Lebensjahr dachte ich mir, ich bin unsterblich. Absolut! Mein Leben entwickelte sich nach dem aufklärerischen Konzept des Fortschritts, es wurde immer besser. Auch körperlich fühlte ich mich immer besser, ich lief immer schneller ... dann erlitt meine Mutter, die sich ebenso gut fühlte wie ich, einen Schlaganfall. Damals wurde es mir bewusst, dass ich auch sterblich bin. Das Ganze ging zeitlich mit dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch in Europa einher. Das war für mich eine Art Erwachen, ein sogenannter Wake-up-Call. (Radek Knapp, 3.4.2016)