Für Sylvia Hahn, historische Sozialwissenschafterin, ist Zuwanderung "eine Signatur moderner Städte".

Foto: privat

Geschlechtergewalt sei leider oft nur Thema, wenn es, wie nach den Übergriffen von Köln, Rassismus legitimiere, sagt Nikita Dhawan, Professorin für politische Theorie und Geschlechterforschung.

Foto: Andreas Friedle

Auf Einladung der Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) und der Plattform 20.000 Frauen wurden in der ÖBB-Zentrale Aspekte weiblicher Flucht erörtert.

Foto: iStock/Daniel Berehulak

"Woher kommt der Mythos, dass wir alle sesshaft sind?" Dieser Frage widmete sich die historische Sozialwissenschafterin Sylvia Hahn bei der Enquete "Frauen. Flucht/Migration. Rassismus" am Freitag in Wien. Auf Einladung der Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) und der Plattform 20.000 Frauen wurden in der ÖBB-Zentrale Aspekte weiblicher Flucht erörtert.

Hahn, Professorin an der Universität Salzburg, wies auf die große Mobilität in Europa bereits vor mehr als 100 Jahren hin. Um 1860, zeigte sie, hatten alle österreichischen Städte an die 50 Prozent ZuwandererInnen. Besonders Wien sei ein Magnet gewesen. Wiener Neustadt zum Beispiel hatte 1890 sogar einen Zuwandereranteil von 75 Prozent. Um 1910 zählte Wien dann rund zwei Millionen Menschen und war neben London und Paris eine der Metropolen Europas. Zuwanderung, so folgert sie, sei "eine Signatur moderner Städte".

Heimatrecht ersitzen

Warum wird Sesshaftigkeit aber positiv, Mobilität historisch eher negativ gesehen? Bis 1860 konnte man sich in der k. u. k. Monarchie das "Heimatrecht" in zehn Jahren ersitzen. Eine andere Möglichkeit war der Grunderwerb, der natürlich der wohlhabenden Klasse vorbehalten war. Ab 1900 wurde das Heimatrecht reformiert. Für Frauen bedeutete das eine "doppelte Bürde", weil es nur mehr durch die Männer an Frauen und Kinder weitergegeben wurde. Dieses "ius sanguinis", also in männlicher Linie durch Blutsverwandtschaft bestimmt, führte in der Folge zur heutigen Idee der Staatsbürgerschaft. Das Sesshafte war respektabel, das Mobile suspekt, ein Postulat, das in der Blut-und-Boden-Ideologie endete.

Für Frauen hatte die Reform des Heimatrechts zum Teil fatale Folgen: So konnte eine Frau durch ihren Vater zum Beispiel in Wiener Neustadt zuständig sein, durch Heirat aber irgendwo in Böhmen, in das sie, zur Witwe geworden, mit ihren Kindern auch ohne Sprachkenntnisse hätte gehen müssen, um wenigstens eine minimale Versorgung zu erhalten. Diese lag damals in Händen der Städte, nicht der Staaten. Diese "restriktive Politik" sei der Regierung aber "schon damals auf den Kopf gefallen". Es sei schlicht nicht möglich gewesen, die Bestimmungen administrativ zu vollziehen. Hahns Schlussfolgerung für heute: "Wir müssen unser Konzept von Staatsbürgerschaft einer mobilen Gesellschaft anpassen."

Migration in allen Familien

Eine weitere Lehre aus der Geschichte, die sie ziehen will: "Das Thema Migration wird in den Familien verdrängt. Das müssen wir ändern. Ich biete den StudentInnen seit vielen Jahren in meinen Proseminaren in Salzburg an, ihre Familiengeschichten zu bearbeiten. Zuerst sagen viele: Wir wohnen immer schon da. Aber in zehn Jahren hatte ich einen einzigen Fall, wo jemand nicht bei Großeltern oder Urgroßeltern auf eine Migrationsgeschichte gestoßen ist."

Auf spezifisch weibliche Aspekte der Migration ging Hahn in einem weitgespannten historischen Überblick von der Antike bis zur Gegenwart ein: Sie betonte dabei die Rolle der Frauen als "kulturelle Vermittlerinnen zwischen Herkunfts- und Ankunftsgebiet", als Opfer von Prostitution, aber auch als Heiratsmigrantin oder selbstbewusste Familienernährerin.

Extralegale Migration

Nikita Dhawan, Professorin für politische Theorie und Geschlechterforschung, definierte in ihrem Vortrag weibliche, "extralegale" Migration als globales Phänomen, das nicht durch Schlepper, sondern durch politische Entscheidungen verursacht werde. Sie bevorzuge den Terminus "extralegal", weil Menschen bewusst durch Gesetze die legale Einreise verweigert würde, die ihnen nach Genfer Konvention zustünde.

Frauen seien auf ihrer Flucht besonders durch sexualisierte Gewalt bedroht. Sexismus sei aber "nicht jetzt erst nach Europa eingewandert". Geschlechtergewalt sei leider oft nur Thema, wenn es, wie nach den Übergriffen von Köln, Rassismus legitimiere. Dhawan polemisierte mit der Aufforderung, "die Aufklärung vor den Europäern zu retten". Wir sollten uns mit unserer "zynischen Grenzpolitik selbst als Teil des Problems sehen", das Kants Idee vom Weltbürgertum verrate. "Aufgabe und Risiko der Politik" sei heute, an einer "postkolonialen Welt" zu arbeiten. (Tanja Paar, 2.4.2016)