Die geplante Änderung des Asylgesetzes, die entgegen ersten Ankündigungen nun doch in Begutachtung geht, ruft aus mehreren Gründen Widerspruch hervor:

1. Ein Notverordnungsrecht der Bundesregierung, wenn auch im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrats, in einem grundrechtlich sensiblen Bereich, in dem es um das Recht auf Asyl bzw. um das Recht auf internationalen Schutz geht, ist aus demokratiepolitischer und rechtsstaatlicher Sicht höchst bedenklich. Allein die umfangreichen Erläuterungen zum Entwurf zeigen, wie herausfordernd die Auslegung der hier zur Disposition stehenden europa- und völkerrechtlichen Bestimmungen ist, die auch Auswirkungen auf die gesamte EU haben könnte. Sollte Österreich wegen einer behaupteten Bedrohung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit unter Berufung auf den Vertrag bezüglich der Arbeitsweise der EU (AEUV) das einschlägige EU-Recht nicht mehr anwenden und Schnellverfahren an der Grenze einführen, könnte dies andere EU-Mitgliedstaaten (MS) zu ähnlichen Maßnahmen verleiten, die höchstwahrscheinlich EU-Recht widersprechen. Die Folge wäre auch eine Gefährdung verpflichtender menschenrechtlicher Standards im Asylbereich, die durch die Genfer Flüchtlingskonvention, die EU-Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention vorgegeben sind.

2. Die Erläuterungen beziehen sich maßgeblich auf ein von Walter Obwexer und Bernd-Christian Funk erstelltes Gutachten. Dieses stützt die Kompetenz, abweichend von EU-Recht Sonderregelungen zu erlassen, auf Artikel 72 AEUV, der bestimmt, dass die EU-Bestimmungen über den "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" nicht "die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit" berühren. Richtig ist, dass es zu Artikel 72 AEUV bisher keine Rechtsprechung des EuGH gibt, dieser aber zuständig ist, über die vertragskonforme Anwendung durch einen MS in Vertragsverletzungs- oder Vorabentscheidungsverfahrens zu entscheiden. Zwar ergibt sich aus der wissenschaftlichen Literatur kein einheitliches Bild, doch spricht vieles dafür, dass Artikel 72 AEUV – entgegen der Auffassung von Obwexer und Funk – keine Befugnis der MS darstellt, vom EU-Recht abzuweichen, sondern die Kompetenz der EU auf diejenigen Maßnahmen beschränkt, zu deren Erlassung sie unter anderem im Bereich "Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung" berechtigt ist. Dazu zählen Bestimmungen wie jene zur vorübergehenden Einführung von Binnengrenzkontrollen oder aufenthaltsrechtliche Regeln für Nicht-EU-Angehörige (z. B. Ausweisungen oder Aufenthaltsbeschränkungen bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit). Nicht im Kompetenzbereich der EU gelegene Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit können hingegen von den MS autonom geregelt werden.

3. Betreffend das Asylwesen sieht Artikel 78 Absatz 3 AEUV vor: Befinden sich Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Flüchtlingen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments vorläufige Maßnahmen erlassen. Dazu zählt auch die "Massenzustrom-Richtlinie" 2001, die unverständlicherweise bisher nicht angewendet wurde (Anträge können von der Kommission und den MS gestellt werden). Sie ist für den Fall eines Massenzustroms von Flüchtlingen gedacht, die aus Gebieten vertrieben oder evakuiert wurden, in denen "ein bewaffneter Konflikt oder dauernde Gewalt herrscht" oder die "ernsthaft von systematischen oder weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen bedroht waren oder Opfer solcher geworden sind" und deshalb nicht sicher und dauerhaft zurückkehren können. Das sehr flexible Instrument gewährt für drei Jahre eine sofortige, aber eben vorübergehende Aufnahme dann, wenn die Gefahr besteht, "dass das Asylsystem diesen Zustrom nicht ohne Beeinträchtigung seiner Funktionsweise und ohne Nachteile für die um Schutz nachsuchende Personen auffangen kann". Ohne das Recht auf einen Asylantrag zu beeinträchtigen, ist das Ziel der Richtlinie die Rückführung von Vertriebenen, sofern sich die Situation im Heimatstaat stabilisiert hat.

4. Unrichtig ist die Annahme des Gutachtens, wonach der EuGH aus Gründen der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit anerkennt, dass die MS das "finanzielle Gleichgewicht der Systeme der sozialen Sicherheit" zur Legitimation von Beschränkungen von Sozialleistungen für Flüchtlinge heranziehen können. Die Rechtsprechung des EuGH bezieht sich nämlich nur auf die Richtlinie über Unionsangehörige 2004 und dient der Begründung explizit vorgesehener Leistungsbeschränkungen für zugewanderte Unionsangehörige.

Fazit: Anstatt per Notverordnungsrecht auf einen Alleingang und eine Kooperation mit integrationsunwilligen EU-(Visegrád-)Staaten zu setzen, sollte Österreich seine Bemühungen für ein EU-einheitliches, menschenrechtskonformes Vorgehen verstärken. (Hannes Tretter, 12.4.2016)