Viel Feind, viel Ehr. PJ Harvey betrachtet auf ihrem neuen Album die Ergebnisse falscher Politik. Das passt der Politik nicht.

Foto: Universal Music
PJHarveyVEVO
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Wien – Die Politik ist schlecht beraten, wenn sie die Kunst angreift. Oder dumm. Oder größenwahnsinnig. Neben den dafür täglich Beweise liefernden diplomatischen Unstimmigkeiten rund um das an den türkischen Staatschef Erdogan adressierte Schmähgedicht des deutschen Satirikers Jan Böhmermann gibt es dafür aktuell auch weniger siedende Belege. Einer kommt von PJ Harvey.

Sie veröffentlicht am Freitag ihr Album The Hope Six Demolition Project. Im Song Community of Hope beschreibt die britische Sängerin einen Stadtteil von Washington DC als "shithole" und Drogenslum. Mehr hat es nicht gebraucht. Die Lokalpolitik schäumte und schimpfte über die Überbringerin dieser für sie unangenehmen Wahrheit.

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Auch der britische Schweinsschädelliebhaber und Premierminister David Cameron ließ in seine Mördergrube blicken, als Polly Jean Harvey auf ihrem 2011er-Album Let England Shake die blutige Geschichte des historischen wie des aktuellen England kritisch memorierte. Er beschimpfte sie als linksradikale Schwätzerin. Da wie dort entstand der Eindruck, die Künstlerin habe einen Nerv getroffen.

Ihr Album The Hope Six Demolition Project, ihr neuntes seit 1992, ist die akustische Fortsetzung eines Buchprojekts. Im Vorjahr veröffentlichte die 46-Jährige den mit dem Fotografen Seamus Murphy entstandenen Band The Hollow of the Hand. Dafür reisten sie in den Kosovo, nach Afghanistan und Washington DC, Chiffren für Krieg, Elend und Macht.

Die Realität ist schrecklich genug

Inspirierten Harvey diese Reisen im Buch zu Gedichten, positioniert sie sich auf ihrem Album als kühle Chronistin. Die Realität ist schrecklich genug. Harvey greift die Politik nicht an, sie zeigt bloß, was sie anrichtet. Das unterscheidet sie von Politikern und vom traditionellen Protestgesang. Harvey ruft nicht zum Sturm auf Paläste und predigt keine Alternativen. Sie verknüpft nur Ereignisse und Beobachtungen.

Diesen wohnt auch ohne Suada Ohnmacht, Trauer und Zorn inne – Gefühle, die die Stimmung auf The Hope Six Demolition Project unterschwellig prägen, da braucht es keine sich überschlagende Klagestimme, ein klarer Erzählton und Blues-Samples reichen. Oder der desolate Ton von Harveys Saxofonkunst. Oder eine Prise Zynismus, den der Albumtitel transportiert: Hope Six Demolition Project hieß ein Urbanisierungskonzept Washingtons, das nicht fruchtete. Was aus dieser Hope, der Hoffnung, wurde, beschreibt Gastsänger Linton Kwesi Johnson in einem Lied als Angelegenheit des "Ministry of Remains", des Ministeriums für Überreste – menschlicher sowie jener einer fehlgeschlagenen Politik.

Harvey überträgt diese Themen in Lieder, denen der Blues als Grundlage dient, ohne sich zwingend an dessen formale Vorgaben zu halten. Es ist derselbe Blues, den Künstler wie Nick Cave oder die Black Heart Procession spielen, ein intellektuell perforierter Gemütszustand am Rande der Verzweiflung.

Tristesse und Schönheit

Der River Anacostia wird im gleichnamigen Lied zum Sinnbild. Dieser "vergessene Fluss" Washingtons ist verseucht, eine vergiftete Ader im Zentrum der Weltpolitik. In der Mitte kippt der Song in das Spiritual Wade in the Water, dann fängt er sich wieder. Bedenkt man, dass Gospels oft unter schrecklichen Umständen entstandene Äußerungen menschlicher Hoffnung waren, lässt sich Harveys Stimmung hinter ihrem distanzierten Vortrag erahnen. Diese mündet in ihre vielleicht beste Arbeit bisher.

Begleitet wird sie von altgedienten Mitstreitern wie John Parrish, Mick Harvey und Terry Edwards. Ohne ihre Anzüge zu verknittern, helfen diese braven Diener ihrer Herrin, aus profaner Trostlosigkeit entrückte Schönheit entstehen zu lassen. (Karl Fluch, 15.4.2016)