Jeder Schritt nach vorn führt zurück in die Vergangenheit. Zurück zu grimmig kalten Burgen, in denen schlotternde Ritter ihre Berufswahl verfluchten. Zurück in Klöster, wo im Akkord für tote Adlige gebetet wurde und schrumpelige Kaiserherzen ihre letzte Ruhe fanden. Zurück in die Geschichte der einst mächtigsten Herrscherdynastie Europas – zurück zu den Habsburgern.

Für diese Zeitreise muss man nur den 2015 eröffneten "Habsburger Weg" zurücklegen und darf sich dann auf eine mehrtägige Tour durch das frühere Vorderösterreich freuen. Vorderösterreich? Noch keine 100 Jahre ist es her, seit die Habsburger Monarchie untergegangen ist, aber erstaunlich wenige Menschen wissen, dass die Wiege dieser Weltmacht in der Schweiz stand, im einstigen Vorderösterreich eben.

Die Habsburg, ein zugiges Schloss im Kanton Aargau.
Foto: bildbaendiger.de / Thomas Schneider

Das umfasste neben Teilen des Elsass und des südlichen Baden-Württembergs vor allem den heutigen Kanton Aargau. Dort lag quasi das Übungsgelände für die Machtspiele eines Adelsclans, der am Höhepunkt seiner fast 700 Jahre währenden Herrschaftszeit über ein Reich befahl, in dem die Sonne nie unterging. Nicht nur halb Mitteleuropa gehörte den Habsburgern, sie besaßen Kolonien in Afrika, Asien und Amerika einschließlich Kuba und Kalifornien.

Windrose mit Osttimor

Ein Imperium über das heute die Kinder hüpfen. Sie springen auf einer großen, im Boden eingelassenen Betonplatte umher. Darauf ist eine Windrose eingraviert, in der Mitte eine Burg, darum herum verteilt in alle Himmelsrichtungen Orte des einstigen Weltreiches mit Entfernungsangaben: Angola 6.270 Km, Goa 7.230 Km, Osttimor 12.300 Km steht da, und wer das liest, ist im Hof der Burg angekommen, die der Adelsfamilie ihren Namen gab – die Habsburg. Sie liegt auf der ersten Teilstrecke des Wanderwegs von Wildegg nach Brugg.

Es geht vorbei an abgeernteten Feldern und vom Nachtfrost versilberten Rebhängen den Wülpelsberg hinauf. Hier oben fand Graf Radbot um das Jahr 1020 herum seinen entflogenen Habicht wieder und beschloss prompt, an Ort und Stelle eine Burg zu bauen. Von der Habichtsburg blieben allein der große Wohnturm und der Saalbau erhalten. Entblößt stehen die beiden Burgreste da. Von den schützenden Befestigungen im Ostteil der Anlage ragen nur noch dicke Mauern aus der Erde und lassen den ursprünglichen Grundriss erahnen.

Habs-Burger mit Rittersalat

Per Knopfdruck kann man sich durch die Audiotour "Habsburger Königsweg" hören und im Turm den Burgherrenblick üben, während sie im Restaurant "Habs-Burger von der gebratenen Entenleber", "Rittersalat im Schüsseli" und Wein von den burgeigenen Reben servieren. Der Habsburger-Schlosstaler ist akzeptiertes Zahlungsmittel. Ein Taler entspricht dem Gegenwert von 10 Schweizer Franken, und für vier Taler könnte man an einem Sonntag zum üppigen Brunch zurückkehren.

Städte wie Bremgarten gehören zu den Gründungen der Habsburger in der Schweiz. In manchen Orten zieren noch immer Doppeladler und rot-weiß-rote Banner die Fassaden.
Foto: Schweiz Tourismus

Eine Rückkehr auf ihren namensgebenden Stammsitz kam für die Habsburger indes nie infrage. Das erzählt der Audioguide zwar nicht, ein Blick auf roh behauene Bruchsteinwände, hohe Säle und unverglaste Fenster reicht aber aus, um zu verstehen, dass die Habsburger das Leben in ihren wohl beheizten Häusern in der nahen Stadt Brugg bevorzugten und ihre Burg im 13. Jahrhundert dauerhaft an ihre Dienstleute verliehen. Deren Nachkommen gründeten viele Jahrzehnte später das Dorf Habsburg, durch das die Wanderer nun Richtung Brugg hinabsteigen, vorbei an Einfamilienhäusern und Villen mit Swimmingpools, Götterstatuen vor den Garageneinfahrten und Vogelvolieren, auf die manch Zoo neidisch wäre. Wo Habsburg draufsteht, ist immer noch Repräsentationswille drin.

Der Weg nach Brugg ist nicht weit. Kurz vor Erreichen der Stadt wartet im Dorf Windisch noch eine Stätte, die den Habsburgern als "Tor zum Paradies" diente. Direkt an der Hauptstraße, und mit seiner schneeweißen Fassade nicht zu übersehen, liegt die Kirche des Klosters Königsfelden. Ab jetzt stehen die Zeichen auf Besinnlichkeit, die sich noch verstärkt, je weiter man um die Kirche herumgeht. Schritt für Schritt die Zeit zurücklassen, aus der man gerade kommt, bis die alten Klostergebäude Lärm und Hektik aussperren und man sich gemeinsam mit Einsamkeit und Stille unter eine riesige Platane setzt. Der Baum spannt seine Äste weit über den Klosterhof, beschattet die Stühle einer Cafeteria und kratzt an manchen Stellen sogar am Dach des alten Spitals.

Idyllischer Tatort

Ein Idyll, das auf Habgier, Skrupellosigkeit und Mord gründet. Königsfelden ist ein Tatort. Der Habsburger-König Albrecht I. wurde hier vom eigenen Neffen Johann von Schwabach umgebracht. Als letzten Liebesdienst ließ Königswitwe Elisabeth am Ort der Bluttat ein Doppelkloster für Klarissen und Franziskanermönche errichten. Mit regelmäßigen Gebeten, so glaubte der mittelalterliche Mensch, könnte man die Zeit verkürzen, die eine Seele im Fegefeuer verbringen muss. Je mehr Ordensleute also Fürbitten für den toten Albrecht I. sprachen, desto schneller öffnete sich für ihn die Himmelspforte.

Hallwilersee im Kanton Aargau: Schön ist er, der Kanton Aargau, aber verkannt. Als Pufferzone zwischen den Vorzeigezentren Bern, Basel und Zürich belächelt und touristisch zu kurz gekommen, trotz der reichen Hinterlassenschaften.
Foto: Schweiz Tourismus/Max Schmid

Reiches Kloster, reine Seele – so lautete die einfache Rechnung. Die Nonnen und Mönche von Königsfelden erhielten gleich einen Dauerauftrag vom Hause Habsburg, das hier elf Verwandte beerdigte und kräftig in die Seelenwaschung ihrer Angehörigen investierte. Für die von ihnen gestifteten Glasgemälde im Chor hält die Kunstgeschichte die Bezeichnung "gotische Meisterwerke" bereit, treffender wäre "leuchtende Eintrittsgelder ins Paradies".

Das Weltliche hat den Wanderer wieder, wenn er sich auf die zweite Teilstrecke des "Habsburger Wegs" von Brugg nach Baden macht. Hier sind auch die unterwegs, die mit dem Adelshaus nichts am Hut haben. Nicht die Ruine der Burg Stein, einst Lieblingssitz der Habsburger, sondern das "Wasserschloss der Schweiz" ist ihr Ziel, ein großes Auengebiet, in dem sich die Flüsse Aare, Reuss und Limmat vereinen. Amselumflötete Wälder, Wiesen und Weiden, Moorgebiete, traditionelle Weinbaudörfer, historische Altstädte – schön ist er, der Kanton Aargau, aber verkannt. Als Pufferzone zwischen den Vorzeigezentren Bern, Basel und Zürich belächelt und touristisch zu kurz gekommen, trotz der reichen Hinterlassenschaften.

Unterm Doppeladler

Klöster und Städte wie Baden, Bremgarten und Laufenburg haben die Habsburger im Aargau gegründet, in vielen Orten zieren noch Doppeladler, Habsburger-Wappen und rot-weiß-rote Banner die Fassaden. In Laufenburg wird bis heute Schweizer Recht unter österreichischen Herrschaftszeichen an den Gerichtswänden gesprochen, und auf Kaiserin Maria Theresias Gemälde blicken Hochzeitspaare im Rheinfeldener Rathaus beim Ja-Wort. Rheinfelden blieb bis 1802 bei Österreich.

Aarau im Kanton Aargau, Kantonshauptstadt an der Aare.
Foto: Schweiz Tourismus/Lucia Degonda

Was wohl aus Vorderösterreich geworden wäre, wenn die Eidgenossen die Habsburger im Jahr 1415 nicht vertrieben hätten? Mit dieser Frage geht man auf der dritten Etappe des "Habsburger Weges" dem Ende ihrer Herrschaftszeit entgegen. Von Bremgarten führt ein Uferweg die Reuss entlang Richtung Muri. Immer wieder wird die Aussicht auf den Fluss durch dichte Schilfgürtel versteckt. Nach einem kurzen Abstecher zum Kloster Hermetschwil macht man am Flachsee Bekanntschaft mit Flussregenpfeifern, Grünschenkel und Gänsesäger. Doch die Habsburg-Wanderer haben für Ornithologiestudien keine Zeit. Sie sind in Herzensangelegenheiten unterwegs.

Das Magnetfeld von Muri

Zwei Herzen, alt und vermutlich verschrumpelt, gelingt es, eine Art Magnetfeld herzustellen, das Menschen weiter zum Kloster Muri zieht. Vorbei kommt ohnehin niemand an der schneeköniginnenweißen Kirche, von der die Flügel der einstigen Benediktinerabtei so abstehen, als stünde das Kloster mit weit ausgebreiteten Armen da. Zwei hohe Türme ragen wie Ausrufezeichen von einer Dachpyramide, und auf der Kuppelspitze tanzt ein Trompete blasender Engel. So hübsch kann ein schlechtes Gewissen aussehen, wenn es zu Stein geworden ist.

Graf Radbot, jener Radbot, der auch die Habichtsburg erbaute, und seine Frau Ita stifteten den Bau des Klosters, um ihre Sünden zu sühnen. Beide liegen im Schiff der Kirche begraben. Hinter dem fröhlich blauen, an naive Bauernmalerei erinnernden Altar der Kapelle steht, für die Betrachter nicht sichtbar, eine schwarze Marmor-Stele. Darin: die Herzen von Muri, die Herzen des letzten Habsburger Kaiserpaares Karl I. und Zita. 1916, mitten im ersten Weltkrieg gekrönt, zwei Jahre später ins Schweizer Exil getrieben und im Verbannungsort auf Madeira mit nur 35 Jahren gestorben.

Kloster Muri
Foto: Wikimedia Commons/Roland Zumbühl

Das kaiserliche Herz wurde bei der Einbalsamierung entnommen und soll seine Frau Zita 67 Jahre überall hin begleitet haben, bis ins Schweizer Altersheim im Bündner Rheintal, wo sie 1989 starb. Ihr Körper ruht in der Wiener Kapuzinergruft, ihr Herz in Muri.

Habsburger Wege haben hinausgeführt aus Vorderösterreich in alle Welt. 28 Generationen nach Radbot und Ita enden die Wege der Herrscherdynastie mit Karl I. und Zita wieder dort, wo alles angefangen hat. Die Schweiz war ihr Schicksal. Mit dieser Erkenntnis knüpft der "Habsburger Weg" jedem einen dicken Knoten ins Erinnerungstaschentuch, dem beim Stichwort Habsburg nur Österreich, Sissi und der Rauschebartkaiser Franz Joseph I. einfallen. (Nicole Quint, 26.4.2016)