Die Statue von Cervantes in Alcalá de Henares: Der spanische Nationaldichter starb am 23.4.1616.

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Anlässlich seines Todestages, der sich heute zum 400. Mal jährt, haben staatliche spanische Stellen für 2016 rund 650 Veranstaltungen zu Leben und Werk des Dichters, Dramatikers und Romanciers Miguel de Cervantes anberaumt. Schwer zu sagen, ob ihn die in diesem Kulturrummel verborgene Wertschätzung der Nachwelt gefreut, misstrauisch gemacht oder melancholisch gestimmt hätte. Seinen berühmtesten Helden, den sinnreichen Junker Don Quijote von der Mancha, hatte Cervantes ja sagen lassen, er sei aller Art von Schmeichelei feind, und auf seiner letzten Reise, vom Dorf Esquivias nach Madrid, parierte der Dichter das überschwängliche Lob eines Studenten mit der Bemerkung, von Musenliebling könne bei ihm wirklich keine Rede sein, "und auch von den anderen wohlfeilen Komplimenten, die Euer Gnaden mir gemacht haben, trifft keines auf mich zu".

So steht es jedenfalls im Vorwort zu Cervantes letztem Roman Persilus und Sigismunda, den er gerade noch fertigstellen konnte, ehe er am 23. April 1616 an den Folgen der Wassersucht starb. Todestag und Todesursache sind ebenso beglaubigt wie Ort und Zeitpunkt seiner Taufe: Alcalá de Henares, 9. Oktober 1547. Das genaue Geburtsdatum des aus einem verarmten Hidalgogeschlecht stammenden Dichters kann hingegen nur vermutet werden, wie sich überhaupt viele lebensgeschichtliche Details bloß indirekt erschließen, über Dokumente, die andere betreffen. Der Schriftsteller Andrés Trapiello hat schon vor Jahren unter Hinweis auf allerlei Winkelphilologen, die gemäß der jeweiligen wissenschaftlichen Mode in Wesen und Werk des Dichters Spuren eines verheimlichten Judentums, einer unterdrückten Homosexualität oder einer kriminellen Veranlagung erkennen wollten, auf ein fundamentales Problem der Biografieforschung hingewiesen: "Da wir fast nichts über Cervantes wissen, können wir in den meisten Fällen auch nicht sagen, warum er getan hat, was er getan hat."

Wirklichkeit und Fantasie

Wir wissen zum Beispiel nicht, warum Cervantes als Zwanzigjähriger Spanien verlassen hat. Warum er sich als Soldat anwerben ließ (in der Schlacht von Lepanto, in der die spanischen und venezianischen Seestreitkräfte die türkische Flotte besiegten, wurde sein linker Arm zerschmettert). Warum er, in Gefangenschaft algerischer Korsaren geraten, mehrere Fluchtversuche und einen von ihm organisierten Sklavenaufstand überlebte. In welcher Mission er nach Oran reiste, nachdem er durch Vermittlung des Trinitarierordens freigekauft worden war. Warum sein Ansuchen um ein Amt in Westindien abgelehnt wurde. Warum er die um vieles jüngere Catalina de Palacios heiratete, warum er sie nach einem Jahr verließ und warum er später wieder mit ihr – und mit seinen leichtlebigen Schwestern, einer Nichte, der unehelichen Tochter – zusammenlebte. Warum er zuvor, in Ausübung seines Berufs als Versorgungskommissar und Steuereintreiber, dreimal eingesperrt wurde, ob unschuldig oder aus eigenem Verfehlen.

Während eines Gefängnisaufenthalts, in Sevilla, hat er nach eigener Aussage sein Hauptwerk konzipiert, vielleicht sogar mit der Niederschrift begonnen. Denkbar, dass ihm schon dort die bittere Episode aus dem ersten Teil des Don Quijote eingefallen ist, in dem dieser zwölf Galeerensträflinge befreit, "denn mein Ritteramt macht mir's zur Pflicht, die Gewalt zu bekämpfen und allen Hilflosen beizustehen. Und es könnte doch sein, liebe Brüder, daß bei dem einen von euch die Folter, bei dem andern die Not, Mangel an Protektion bei dem dritten und bei den übrigen ein ungerechter Spruch des Gerichts an allem die Schuld trägt." Kaum aber sind die Sträflinge ihre Ketten – und die Bewacher – losgeworden, schon fallen sie über ihren Befreier her, verhöhnen und steinigen ihn, zertrümmern seinen Helm und reißen seinem Knappen Sancho Panza die Kleidung vom Leib, ehe sie das Weite suchen.

An dieser Geschichte mit doppelt schmerzhaftem Ausgang – physisch wie moralisch – zeigt sich, dass der Roman den Vorsatz seines Autors weit übertrifft. Cervantes wollte ja eine Parodie auf das Genre der äußerst beliebten Ritterromane und die einfältigen Leser solcher Schwarten verfassen, die – wie sein Held Alonso Quijano, der durch übermäßige Lektüre den Verstand verliert und zum Ritter von der traurigen Gestalt mutiert – Wirklichkeit und Fantasie nicht mehr auseinandehalten können. Offenbar haben aber schon zeitgenössische Leser den Roman nicht nur als Satire aufgefasst, sondern im Konflikt zwischen Illusion und Erscheinung, ehrloser Gegenwart und in eine idealisierte Vergangenheit projizierte Tugendhaftigkeit sein utopisches Potenzial erkannt.

Die Fülle an komischen Elementen mag es ihnen erleichtert haben, die tragischen Aspekte hinzunehmen. Diese wurden erst 200 Jahre später, in der Romantik, zu bestimmenden Wesenszügen des Romans erklärt und dessen Protagonist als ein in seinem Idealismus gescheitertes Individuum verehrt.

Dass der Roman durch die Jahrhunderte, in allen möglichen Sprachen, auf allen Kontinenten, quer durch die Klassen und speziell unter Künstlern und Philosophen beliebt geblieben ist wie kein anderes Werk der Weltliteratur, liegt auch daran, dass Cervantes scheinbar spielerisch, ohne die Verbissenheit vieler Avantgardisten, Geschichten erfindet und dieses Erfinden zugleich zum Thema macht. Er zeigt, in den Worten Juan Goytisolos, "die Fäden der Handlung ebenso wie die Gewitztheit des die Fäden Ziehenden", mischt sich in das Romangeschehen ein, ruft die Leser bei Bedarf "zu größerer Achtsamkeit" auf und erklärt mittendrin einen fiktiven Mauren namens Hamet Ben-Engelí zum eigentlichen Verfasser des Romans; er selbst, der Erzähler-Autor, habe nichts anderes getan, als dessen Manuskript aus dem Arabischen zu übersetzen.

Ein Buch für Revolutionäre

Außerdem besticht das Werk durch seinen realistischen Gehalt, den Wortwitz und die volkstümliche, doch nie derbe Sprache. Man freut sich über die Sprichwörter, die Sancho zu jedem passenden (selten) und unpassenden (häufig) Anlass von sich gibt, und an den vor Ironie funkelnden Überschriften: "70. Kapitel. Welches auf das neunundsechzigste folgt und von Dingen handelt, die für das Verständnis dieser Geschichte unentbehrlich sind." Ohne die eingangs zitierte Äußerung, derzufolge die Muse sich nicht wirklich um ihn bemüht hat – was heißt, dass das Schreiben ihm schwer gefallen ist -, könnte man glauben, Cervantes habe sein Werk im Zustand der Unschuld oder der Gnade geschaffen.

Natürlich ist Don Quijote auch ein Buch für Revolutionäre. Karl Marx hat es geliebt, Ernesto Guevara in der Guerilla mit sich herumgeschleppt. Vor Beginn seines kubanischen Abenteuers, 1956, schrieb der "Che" in einem Brief an seine Mutter: "Ich habe beschlossen, mich der herrschenden Ordnung der Dinge entgegenzustellen, den Schild im Arm, alles ist reine Phantasie. Und danach, falls die Flügel der Windmühlen mir nicht den Kopf abschlagen, werde ich schreiben." Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen; die Windmühlenflügel erwiesen sich als stärker. Allerdings gilt, was gegen Ende des Buches Sancho über seinen Herrn und Meister sagt: Auch wenn ihn fremde Arme besiegt hätten – er ziehe als Sieger über sich selbst einher, "was, wie er selber mir gesagt hat, der größte Sieg ist, den man erringen kann". Entscheidend sind demnach nicht die Niederlagen, die einem andere bereiten; entscheidend ist der Wille, Irrwege zu meiden, die für richtig erkannten Ideale jedoch weiterzuverfolgen.

Zum Schluss zwei Nachrichten aus jüngster Zeit: Laut Umfrage des staatlichen Forschungsinstituts CIS haben 22 Prozent der Befragten den Don Quijote gelesen. Das wären, hochgerechnet, immerhin acht Millionen Spanier. Damit es noch mehr werden, hat die Firma Lectura Ágil eine Methode entwickelt, mit der sich die Lektüre von immerhin 1200 Seiten in weniger als sieben Stunden bewältigen lässt. Happenweise, in Einheiten von je zehn Minuten. Schade, dass man nicht erfährt, was dem Ritter und seinem Knappen dazu eingefallen wäre. (Erich Hackl, 23.4.2016)