Wien – Das Taxi warte, er müsse dringend den Fahrer bezahlen – und für das Zugticket reiche das Geld, nach allem, was ihm zugestoßen sei, auch nicht, sagt der junge Mann in gutem Englisch. Mit verzweifelter Miene und geröteten Augen erzählt er, Philosophiestudent, wie er sagt, seine Geschichte.

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Er ist nicht der Einzige, der in den Hallen des Wiener Westbahnhofs und auf dem umliegenden Areal Passanten anspricht. Manche haben, wie er, eine Geschichte vorbereitet. Andere betteln, indem sie leise murmelnd die Hand aufhalten – oder sie sitzen mit einer Kappe vor sich am Boden. Bettler, Obdachlose, Suchtkranke und Betrunkene tummeln sich am und um den Bahnhof im 15. Bezirk. Die Polizei bezeichnet sie als "typische Klientel". Es scheinen sich mehr von ihnen hier aufzuhalten als früher, bevor der Westbahnhof vom Fernverkehr abgeschnitten wurde.

Junge Flüchtlinge

"Sie fallen mehr auf, weil insgesamt weniger los ist", meint eine Trafikantin. Tatsächlich ist es ruhig. Vor rund vier Monaten wurde der Fahrplan umgestellt. Die meisten Bahnverbindungen werden seitdem über den Hauptbahnhof geführt. Der Westbahnhof ist ein Regionalbahnhof geworden. Die Rolltreppen werden nicht mehr von Touristen mit großen Gepäckstücken blockiert. An den Imbissständen stehen Reisende nicht Schlange. Die tausenden Flüchtlinge, die freiwilligen Helfer, ÖBB-Mitarbeiter, Polizisten und Journalisten, die im vergangenen Herbst die Bahnsteige bevölkerten, sind nur noch Erinnerung.

Weil weniger los ist, fallen Randgruppen mehr auf.
Screenshot: Sarah Brugner

Davon übriggeblieben sind kleine Gruppen junger Flüchtlinge, oft unbegleitete Minderjährige, die an den Tischen zusammensitzen oder am Geländer lehnen, sich die Zeit vertreiben und das kostenlose WLAN nutzen.

Die Polizei bestätigt diese Beobachtungen. Es seien weder mehr Obdachlose und Bettler unterwegs noch gebe es mehr Anzeigen oder Vorfälle. Registriert werden laut Polizeisprecher Paul Eidenberger etwa Laden- und Gepäckdiebstähle, aber auch "Streitereien und Raufereien" unter den jungen Flüchtlingen. Letzteres nehme ab, weil sich immer weniger Asylsuchende am Westbahnhof aufhielten. Er sei nur im Herbst ein "Hotspot für Flüchtlinge" gewesen, weil er der einzige Ort war, den die dort angekommenen Menschen kannten, sagte Eidenberger.

Fokus beginnt bei Thaliastraße

Ein Hotspot für den Drogenhandel sei der Westbahnhof ebenfalls nicht. Es komme zwar hin und wieder zu Delikten, der Fokus der Polizei entlang der U6 beginne aber bei der Thaliastraße. Es gebe insgesamt keinen Grund für eine verstärkte Polizeipräsenz.

Bei der ÖBB sieht man das anders. Seit mehr als einem Jahr sei "ein interessantes Phänomen beobachtbar", sagte Sprecher Michael Braun dem STANDARD. Obwohl die "objektiv gegebene Sicherheit ungebrochen hoch" sei, sinke das Sicherheitsgefühl. Dem begegne man mit "sichtbarem Personal": 2015 wurde dieses um 210 auf 385 Mitarbeiter aufgestockt. Bis Jahresende sollen 500 Mitarbeiter auf den Bahnhöfen im Einsatz sein. Acht Securitymitarbeiter sind rund um die Uhr auf dem Westbahnhof unterwegs.

Ein Hotspot für Kriminalität ist der Westbahnhof nicht. Trotzdem sinkt das Sicherheitsgefühl.
Screenshot: Sarah Brugner

Seitens der Anrainer gebe es zwar keine Beschwerden, sagt Gehard Zatlokal, Rudolfsheimer Bezirkschef. Er befürchtet aber, dass sich der Drogenhandel zum Westbahnhof verlagern könnte, wenn die Polizei bei den Hotspots Burggasse und Thaliastraße "härter durchgreift". Von der Verschärfung im Suchtmittelgesetz, die mit 1. Juni in Kraft tritt, erhofft sich Zatlokal deshalb eine Verbesserung der Situation.

Zehn Prozent weniger Umsatz

Die Geschäftstreibenden beschäftigt ein anderes Thema: Einige klagen seit dem Fahrplanwechsel über Umsatzeinbußen. Das Geschäft sei um 50 bis 60 Prozent zurückgegangen, sagt etwa der Filialleiter von Subway. Das Personal sei um sieben Mitarbeiter reduziert worden. Laut ÖBB-Sprecher Braun würden manche Geschäfte die Umstellung "mehr spüren, andere weniger", einige würden ein Plus verzeichnen. Durchschnittlich würden die Einbußen bei zehn Prozent liegen.

Bei der ÖBB zeigt man sich mit dem Fahrplanwechsel trotzdem zufrieden: Man habe im Nahverkehr zugelegt. Auch die Westbahn profitiert: Pendler und "Shoppingtouristen", die auf der Mariahilfer Straße einkaufen wollen, würden mit der Westbahn anreisen, sagte ein Sprecher dem STANDARD.

Der Bezirk befürchtet, dass es künftig einen Rückgang bei den Nächtigungen geben könnte. (Text: Christa Minkin, Video: Sarah Brugner, 26.4.2016)