Muktada al-Sadr: Der Spross einer berühmten klerikalen Familie stellte bereits nach 2003 den Anspruch als schiitischer Führer.

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Bagdad/Wien – Muktada al-Sadr hat anlässlich der Wallfahrt, die alljährlich Millionen schiitischer Pilger nach al-Kadhimiya in Bagdad bringt, seine Anhänger aus dem Regierungsbezirk zurückbeordert: Die schwerste politische Krise, die der Post-Saddam-Irak je gesehen hat, bleibt jedoch ungelöst. Gerüchte und Spekulationen machten am Montag in Bagdad die Runde: von einer bevorstehenden bewaffneten Konfrontation der schiitischen Gruppen, von der Gefahr eines Putsches, der einen starken Mann an die Macht bringen könnte (hier fehlt natürlich nicht die Behauptung, dass er von den USA orchestriert sein würde).

Als Saddam Hussein im April 2003 durch die US-Invasion gestürzt wurde, war Muktada al-Sadr, der heute das System ins Wanken bringt, noch keine dreißig Jahre alt. Der junge Mullah sah nicht nur aus, als sei er aus irgendeinem finsteren Loch gekrochen, das traf gewissermaßen zu: Der Verfolgung Saddams, der nicht nur seinen Vater und seine Brüder 1999, sondern bereits 1980 seinen Onkel, einen der wichtigsten Ayatollahs seiner Zeit, und dessen Schwester ermorden ließ, konnte er nur im Untergrund entgehen. Muktada al-Sadr wurde so zum wichtigsten Überlebenden einer klerikalen Familie, die sowohl im Irak als auch im Libanon eine große Rolle spielte.

Von Saddam zu Sadr City

Den Niedergang des irakischen Staates durch die internationalen Sanktionen, der die einstige "Republik der Angst" längst in ein ideologieloses Mafiaunternehmen verwandelt hatte, konnten die Leute Sadrs geschickt für sich nutzen. Noch bevor die USA Bagdad kontrollierten, hatten die Sadristen die Kontrolle über "Saddam City" übernommen und sie zu "Sadr City" – benannt nach Muktadas Vater – gemacht.

Sadr war von Beginn an der Führer der allerärmsten schiitischen Schichten, der verlorenen Generationen Saddams. Insofern ist sein heutiger Anspruch, für die Masse der kleinen Leute zu sprechen, zumindest authentisch. Dennoch wird man hell hörig, wenn ein schiitischer Mullah eine "linke" Agenda zu einer nationalen Mobilisierung verwendet: Mit den Themen "Korruption" und "Missmanagement" bekommt er auch Applaus von Menschen, die sich sonst vor ihm fürchten würden. Seine Anhänger hingegen verehren ihn ohnehin wie einen Heiligen, auch Wunderheilungen werden ihm schon nachgesagt.

Eine komplizierte Geschichte

Sadr stellt sich ja vordergründig hinter Premier Haidar al-Abadi, der mit seinen radikalen Reformplänen am Widerstand seiner eigenen politischen Verbündeten scheitert. Aba dis größter Herausforderer ist Nuri al-Maliki, sein Vorgänger als Premier, der starke Unterstützung in eher radikalen schiitischen Kreisen genießt. Maliki wird wieder um von Sadr als Erzfeind betrachtet: Er ging als Premier gegen Sadrs Miliz, die damalige Mahdi-Armee, vor, und Sadr, der immer gegen die US-Präsenz kämpfte, betrachtete dies als Verrat. Dennoch – auf Druck des Iran, heißt es – unterstützte er 2010 Malikis zweite Amtszeit.

Mit dem Dreieck Maliki – Sadr – Abadi ist jedoch das schiitische Spektrum nicht abgedeckt. Eine eher vermittelnde Rolle im aktuellen Konflikt spielen – mit dem Iran im Hintergrund – der traditionell bürgerliche Hohe Rat und dessen ehemalige Miliz, Badr, die heute eine eigene politische Partei ist.

Sistani war stärker

Der Hohe Rat hat 2003 mit Großayatollah Mohammed Baqir al-Hakim seine große Führungsfigur bei einem Massenanschlag in Najaf verloren. Für den Tod eines anderen Hoffnungsträgers einer großen klerikalen Familie, Abdul Majid al-Khoei, wird Muktada al-Sadr verantwortlich gemacht. Im April 2003 kehrte Khoei aus dem Exil nach Najaf zurück und wurde von einem – angeblich Sadr zuzurechnenden Mob – ermordet. Er soll vor dem Haus Sadrs gestorben sein, der jede Hilfe verweigerte.

Sadr forderte auch Ali Sistani, den unumstritten stärksten schiitischen irakischen Mullah in Najaf heraus: Dieser obsiegte, und Sadr zog sich zum theologischen Studium in den Iran zurück und verkündete 2014 seinen Abschied aus der Politik. Aber nun meldet sich der 85-jährige Sistani seit Monaten nicht mehr zu Wort – und Sadr ist zurück auf der Bühne. (Gudrun Harrer, 2.5.2016)