Am Sonntag findet der dritte "Wings for Life" Worldrun statt. Beim weltweit größten Charitylauf laufen Hunderttausende zeitgleich auf der ganzen Welt vor der Ziellinie davon. Der Sieger der ersten beiden Läufe will heuer aber nicht gewinnen – sondern lädt in Wien zum"Siterunning" ein.

Nein, sagt Harald Fritz, den Hattrick wird es nicht geben. Denn Lemawork Ketema wird am Sonntag nicht gewinnen. "Das passt nicht in unsere Trainings- und Wettkampfplanung", erklärt der Trainer, Manager und Mentor des Neo-Österreichers. Zum einen, weil Ketema noch immer hofft, das österreichische Marathon-Olympialimit zu schaffen – und da wäre ein etwa-80-Kilometer-Lauf im Wettkampftempo eher kontraproduktiv. Zum anderen, weil der Neo-Österreicher sich auch für die EM frisch halten will. Da will er über die Halbmarathondistanz gehen. Und zum dritten, sagt Fritz, weil es auch andere Ziele und Aufgaben gibt: "Der Worldrun ist ein Lauf, bei dem nicht nur derjenige Sieger ist, der als allerletzter vom Catcher Car eingeholt wird: Hier geht es um die vielen, vielen Normalo-Läufer, die damit ein Statement abgeben." Und deshalb, so Fritz, werde Lemawork Ketema dort laufen, wo die Menschen sind: Nicht an der Spitze – sondern mitten im Pulk.

Foto: Wings for Life

Auch auf die Gefahr hin, dass Florian Neuschwander ein bisserl enttäuscht sein könnte: Neuschwander hat nämlich im Vorjahr in München gewonnen. Und erzählte mir im Jänner – bei der Präsentation der Worldrun-App – ebendort, dass er einen Plan habe: "Ich würde mich heuer wahnsinnig gern mit Lemawork duellieren – und zwar hier in München. So knacken wird die 80-Kilometer-Marke nämlich unter Garantie." Aber schon damals hatte Lemawork eher ausweichend reagiert: Ob der "Wings for Life" Worldrun 2016 mit seinen Olympiaplänen zusammen passe, stehe nämlich in den Sternen. Oder vielleicht nicht einmal dort.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber vielleicht sollte ich von vorne beginnen: Kommenden Sonntag ist wieder Worldrun. Oder – wie die Veranstalter betonen – "Wings for Life"-Worldrun: Zum mittlerweile dritten Mal starten auf der ganzen Welt zum exakt gleichen Zeitpunkt hunderttausende Läuferinnen und Läufer. Man läuft nicht auf eine Ziellinie zu, sondern vor ihr davon: So genannte "Catcher Cars" starten eine halbe Stunde nach dem Startschuss, werden kontinuierlich schneller – und rollen das Feld von hinten auf. Wer überholt wird, der oder die ist raus.

Foto: Thomas Rottenberg

Allein das gibt dem Lauf eine einzigartige Atmosphäre – und zwar unabhängig davon, ob man in Wien oder an einem der 33 anderen Läufe teilnimmt: Klar rennt jede und jeder da so gut, schnell und weit es eben geht. Aber schon weil auch bei denen, die aufgrund der Menschenmassen erst nach drei oder vier Minuten über die Startlinie kommen, die Zeit ab dem Startschuss gemessen wird, fehlt da (bei den meisten zumindest) jener verkniffene Ehrgeiz, der bei vielen Hobbyläufe(r)n den Spaßfaktor am Wettbewerb rasch überlagert.

Foto: Thomas Rottenberg

Abgesehen davon geht es beim Worldrun auch weniger ums Siegen, denn ums Dabeisein: Der Lauf ist eine Charity-Veranstaltung zugunsten der Rückenmarksforschung. Ziel des Events ist es, Geld zu sammeln, das helfen soll, die Querschnittslähmung heilbar zu machen. Natürlich kann kein Mensch sagen, wie, ob und wenn ja wann das je gelingen wird. Aber das ist nicht der Punkt: Der Versuch und die Absicht zählen – und machen nicht zuletzt in der öffentlichen Wahrnehmung einen gewaltigen Unterschied: Allein die Tatsache, dass Rollstuhlfahrer (und -innen) ganz selbstverständlich an dem Event teilnehmen, und hier niemand auf die Idee käme, Menschen zu Behinderten zu behindern, zwingt zum Umdenken. Bei Sportevents – aber auch im Alltag: "Yes we can" gilt. Solange es die angeblich "Nichtbehinderten" nicht verhindern.

Foto: Thomas Rottenberg

"Wings for Life" ist – das ist kein Geheimnis – eine Stiftung, die im Red-Bull-Universum daheim ist. Es ist auch kein Geheimnis, dass ich bis vor zwei Monaten Angestellter eines anderen Betriebes des Konzerns war. Dennoch habe ich über den Lauf hier geschrieben – und auch immer offen auf dieses Naheverhältnis hingewiesen: bei anderen Themen hielte (und hielt) ich das für problematisch und habe deshalb von vornherein auf die eine oder andere feine Geschichte verzichtet. Beim "Worldrun" ist das anders. Das sahen auch die Kollegen und Kolleginnen beim Standard so. Auch, weil das Setting hier anders ist: Die Dose ist beim Worldrun selbst kein Thema – finanziert aber Event und Drumherum. So können alle Startgelder und sonstigen Erlöse 1:1 in die Arbeit der Stiftung fließen. Dass einschlägig gesponserte Sportler hier auftauchen? Ja eh: Das Logo ist im Sport omnipräsent.

Foto: Thomas Rottenberg

So wie jeder Laufevent hat auch der Worldrun zwei Gesichter: Auf der einen Seite ist da der Volkslauf. Das Fest, bei dem jeder und jede mitrennen kann. Auf der anderen der Elite-Bewerb. Der Lauf, bei dem vorn ein paar Handvoll Spitzen- und Extremläufer wegziehen – und in ganz anderen Sphären unterwegs sind, als Sie und ich je sein werden: Zwischen dem, was da vorne abgeht und dem, wo unsereiner (egal wie gut Sie sein mögen) unterwegs ist, liegen Welten.

Foto: Thomas Rottenberg

Lemawork Ketema hat in dieser anderen Welt zweimal gewonnen. Der gebürtige Äthiopier, der in Österreich politisches Asyl bekam, aber als Nicht-Österreicher nicht für Österreich und aus nachvollziehbaren Gründen nicht für Äthiopien starten konnte, nutzte die Chance des atypischen Rennens gleich zwei Mal – und gewann zweimal. Nicht nur die Ö-Wertung, sondern die globale Challenge. Im Vorjahr mit einem weinenden Auge: Ketema wollte eigentlich die 80-Kilometer-Marke knacken. Aufgrund eines Kommunikationsfehlers (er hielt das "du hast es eh schon geschafft") für die Ansage, den 80er geschafft zu haben, stieg er im Endsprint vom Gas – und schaffte "nur" 79,9 Kilometer.

Foto: Thomas Rottenberg

Mittlerweile ist Lemawork eingebürgert. Er darf – und will – für Österreich starten. Doch so fein das auch ist, schnappt genau an dieser Stelle dann die Leistungssport-Falle zu: Der "Worldrun" ist kein Lauf im offiziellen Wettkampfkalender. Wie auch: Die Normierung von Bewerben, Distanzen, Zeiten und Limits ist hier – systemimmanent – nicht möglich. Da Spitzensportler ihre Leistungen aber sehr präzise timen müssen, um dann, wenn es drauf ankommt, in Topform zu sein, passen derartige Events schlicht und einfach nur dann in den Kalender, wenn keine große Challenge bevorsteht. Und die Qualifikation für Olympische Spiele ist definitiv keine kleine Aufgabe.

Foto: Thomas Rottenberg

Also überrascht es nicht, dass Ketema und sein Manager spätestens nach dem – leider misslungenen – Versuch, beim Marathon in Hamburg die Zeit für Rio zu laufen, beschlossen, den Läufer zu schonen. Und den Worldrun-Hattrick eben nicht einmal anzudenken – sondern etwas ganz anderes zu planen: Der Champion wird dort laufen, wo das Herz des Laufes schlägt – im Pulk.

Foto: Thomas Rottenberg

"Lemawork Riesenrad", sagt Ketemas Trainer Harald Fritz, sei der Name der Gruppe, als die er und sein Schützling starten wollen. "Der Lema wird bis zum Riesenrad laufen. Das sin exakt 18 Kilometer – und jeder und jede ist herzlich eingeladen, mit uns zu laufen", erklärt Fritz. Wieso gerade diese Distanz? "Das wird ein Siterunning-Lauf – auf diesen 18 Kilometern sieht man alle Sehenswürdigkeiten der Stadt", erklärt Harald Fritz. Stimmt: Start ist schließlich bei der Karlskirche – und dann geht es über die Wienzeile stadtauswärts und über die Mariahilferstraße wieder zurück in die Stadt. Über Ring und Kai in den Prater. Dann hinaus zur Reichsbrücke und über die Donauinsel flussaufwärts: Korneuburg, Greifenstein, Tulln – und wieder zurück nach Wien.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Strecke ist so ausgelegt, dass etwa bei der Reichsbrücke die Halbmarathondistanz erreicht sein wird. Statistisch ist das der Moment, wo etwa die Hälfte der Läuferinnen und Läufer vom Catcher Car eingeholt sein werden: Um bis zum Riesenrad zu kommen, muss man eine Pace von 5’36" laufen (exklusive der Zeit, die man verliert, wenn man nicht als erster über die Startlinie geht). Für Ketema ist das gerade Spazierengeh-Pace. Aber genau das ist der Unterschied: "Für sehr viele Hobbyläufer ist das ein realistisches bis ehrgeiziges Tempo", erklärt Harald Fritz. "Genau deshalb laden wir ja auch ein, es mit uns zu laufen." Und wieso gerade bis zum Riesenrad – und nicht ein bisserl weiter? "Naja, nach dem Praterstern ist die Strecke nimmer schön. Da hat man die Sehenswürdigkeiten hinter sich", lacht Fritz.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass der Lauf so angelegt ist, dass etwa die Hälfte der Läufer bei der Reichsbrücke schon draussen sein werden, hat aber ganz praktische Gründe. Die Krux einer solchen Veranstaltung ist ja nicht bloß die technische Challenge der Zeitnehmung und die globale Gleichzeitigkeit, sondern auch die Logistik. Man kann 20.000 Läuferinnen und Läufer ja nicht einfach ins Blaue rennen lassen – und ihnen einfach nur nachwinken: Die Menschen müssen auch wieder nach Hause kommen. Die ersten beiden Läufe in Österreich fanden deshalb bei St. Pölten statt: Rund um die niederösterreichische "Metropole" gab es genug Wege und Straßen, über die man die Läufer in Bussen zurück holen konnte – nur ist St.Pölten halt eher enden wollend sexy.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Sprung nach Wien macht den Lauf dann optisch attraktiver – aber auch zu einer größeren logistischen Herausforderung. Mit einem enormen Vorteil: Wien hat ein dichtes und potentes Netz öffentlicher Verkehrsmittel. Die können einen Großteil der Shuttle-Arbeit übernehmen, erklärt Thomas Smogawetz. Der ehemalige Triathlon- und Ironman-Eventprofi ist "Eventdirector" des Worldruns – und bewegt sich selbst während des Laufes kaum einen Millimeter weit: Er sitzt in der Technikzentrale des Events (früher war das in Spielberg, heuer wird es Salzburg sein) und wird am Tag des Laufes zwischen Fluchen und Beten hin und her schwanken: Bei ihm laufen alle technischen Fäden des Events zusammen. Und darüber, was bei so einem Stunt alles schief gegen kann, will Smogawetz lieber nicht reden.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn beim Worldrun geht es um etwas anderes: Um Emotionen. Um Empathie. Um das Gefühl, Teil von etwas zu sein, was mehr ist, als nur die Summe der einzelnen Teile.

Es geht auch um Hoffnung. Darum, zu zeigen, dass man etwas bewirken kann, wenn man sein Geld, seine Zeit und seine Leistung für etwas einsetzt.

Sei es, weil man für die läuft, die es selbst nicht können. Oder weil man zeigt, dass es eine Alternative gibt. Zum Jammern. Zum Aufgeben. Zum sich-Fügen:

Der Worldrun ist nämlich auch ein Statement. Das Statement, dass es sich lohnt, daran zu glauben, dass es möglich ist, die Welt zu verändern. (Thomas Rottenberg, 4.5.2016)

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"Wings for Life"-Worldrun

Foto: Thomas Rottenberg