"Es gibt Flüchtlinge aufgrund der Ausbeutung von Bodenschätzen, die wir für unsere elektronische Revolution, Handys etc. brauchen", sagt die Soziologin Saskia Sassen.

Foto: Columbia University

Saskia Sassen, Professorin für Soziologie an der Columbia University in den USA, spricht am 5. Mai bei der DiEM-Konferenz "Europas Pflicht gegenüber den Geflüchteten, Europas Pflicht gegenüber sich selbst" in Wien.

STANDARD: Ist das, was wir derzeit erleben, eine Folge der Entwicklung, die Sie in ihrem neuesten Buch "Ausgrenzungen: Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft" beschreiben?

Saskia Sassen: Ja, zu einem gewissen Grad. Wir haben es mit drei verschiedenen Typen von Bewegungen zu tun: Eine sind jene der Kriegsflüchtlinge, die andere jene der MigrantInnen auf der Suche nach einem besseren Leben. Was oft unbemerkt bleibt, und darauf weise ich in meinem Buch hin, sind jene, die auf das zurückzuführen sind, was gemeinhin "wirtschaftliche Entwicklung" genannt wird, aber eher destruktiv als konstruktiv wirkt.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Sassen: Es gibt Flüchtlinge aufgrund der Ausbeutung von Bodenschätzen, die wir für unsere elektronische Revolution, Handys etc. brauchen. Und aufgrund des massiven Landraubs, der von vielen Ländern und Konzernen zur Nahrungsmittelproduktion betrieben wird. Das sind Plantagen und Monokulturen, die den Boden schnell zerstören. Und dann gibt es das Wachstum der Städte, Einkaufszentren, "gated communities", all das kostet Land. Die VerliererInnen dabei sind die oft informellen LandbesitzerInnen, die den Boden seit Generationen fruchtbar gemacht haben. Das können sie oft nicht beweisen und werden einfach vertrieben.

STANDARD: Welche Bedeutung hat der Klimawandel für diese Entwicklung?

Sassen: Er verstärkt sie. Der Klimawandel, der immer größere Gebiete mit Wasser bedeckt oder zur Wüste werden lässt. In "Ausgrenzungen" nenne ich sie bei dem brutalen Namen, den sie verdienen: totes Land.

STANDARD: Wie soll Europa mit Migration umgehen?

Sassen: Basierend auf dem vorhin Gesagten: Europa könnte und sollte argumentieren, dass wir neue Systeme brauchen, um mit diesen Katastrophen umzugehen. Wir brauchen Regierungen, die die Bergbaufirmen und Konzerne klar für die Vertreibungen im globalen Süden als Verantwortliche nennen. Den Landraub ansprechen, der zur Folge hat, dass Menschen fliehen müssen, bloß um zu überleben. Das sind die Flüchtlinge unserer Ära.

STANDARD: Wie wird Migration die europäischen Städte beeinflussen?

Sassen: Gerade jene Städte, die stark von Migration betroffen waren, sind für ihren Kosmopolitismus bekannt. Starke Immigrationskulturen stellen starke, wohl definierte kulturelle und soziale Elemente zur Verfügung. Ich mag das Bild dieser zähen Einflüsse, die langsam in die Stadt einsickern, eventuell sogar die Eliten erreichen. Das inkludiert die Küche, Musik, Tanzstile, Literatur, Theater, Gesundheit, die Art, wie man geht oder sich begrüßt.

STANDARD: Also rein erfreuliche Aussichten?

Sassen: Ja, zuerst einmal im Sinn von Ethno (Küche, Musik), dann aber auch in grundlegenderen, abstrakteren Versionen von all dem. Aber um dorthin zu kommen, wird es einen Kampf geben – der Missverständnisse, Lektüren und Relektüren, Provinzialismus, falsche Ängste, Rassismus. Europa hat eine lange Tradition in der Verdächtigung der Outsider.

STANDARD: Sie haben sich bereits 1996 in ihrem Buch "Migranten, Siedler, Flüchtlinge" damit befasst.

Sassen: Was ich darin zeige, ist: Selbst wenn der Outsider – was die Sprache, den Phänotyp, die Kultur betrifft – dein "Cousin" war, wurde er trotzdem negativ gesehen. Deswegen, wenn wir heute denken, es sind die andere Religion oder Hautfarbe der Grund unseres Rassismus, liegen wir falsch. Das war auch schon so, als der Migrant unser "Cousin" war.

STANDARD: Was erwarten Sie sich von DiEM25 in Wien?

Sassen: Bei DiEM25 geht es um Europa, das heißt, in jeder einzelnen Stadt werden vielleicht unterschiedliche Probleme angesprochen, je nachdem, wer sich dafür engagiert. Ich denke darüber als ein größeres, transnationales europäisches Projekt, in dem die Städte lokale Knotenpunkte bilden, die ähnliche Fragestellungen teilen. (Tanja Paar, 4.5.2016)