Primus Heinz Kucher ist Professor für Germanistik.

Foto: Maurer

Klagenfurt – Ist von den "wilden 20er-Jahren" die Rede, denkt man üblicherweise an Paris, Berlin, London oder New York. Wien wird in dieser zwischen zwei Weltkriege eingezwängten Blütezeit der Avantgarde oft nur als kleiner Kulturzulieferer für Berlin wahrgenommen. Dabei war die Stadt damals ein einzigartiges kulturelles und gesellschaftspolitisches Versuchslabor, in dem mit revolutionären Neuerungen in fast allen Kunst- und Lebensbereichen experimentiert wurde.

Bislang hat sich die Forschung dieser Zeit vor allem aus einer stark historischen Perspektive angenähert, in der die Polarisierung zwischen den politischen Lagern oder der "habsburgische Mythos" den Blickwinkel auf Alltag, Kunst und Kultur bestimmen. Der Klagenfurter Germanist Primus Heinz Kucher aber will mehr: ein umfassendes Epochenprofil, in dem sämtliche Aspekte des österreichischen Kulturlebens der Zwischenkriegszeit zusammengeführt werden.

Darin sollen neben der Kulturförderung des Roten Wien, den üblichen mit dieser Zeit assoziierten Musikern und Literaten von Arnold Schönberg oder Alban Berg über Karl Kraus bis Robert Musil auch bisher wenig beachtete, aber in den Zwischenkriegsjahren sehr wirkmächtige kulturelle Bereiche und Persönlichkeiten untersucht werden.

"Mir geht es darum, festgefahrene Perspektiven aufzubrechen, die mit immer denselben Autoren, Texten und Kunstwerken argumentieren", sagt Kucher. Mit einem internationalen Forscherteam arbeitet er in seinem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt an einem Online-Epochenprofil, in dem die radikalen Veränderungsprozesse in allen Lebensbereichen und kulturellen Sphären nach 1918 einsehbar werden. Diese umfassen auch transdisziplinäre Bereiche etwa an der Schnittstelle zwischen Text und Medienkultur wie beispielsweise den Radioroman, die Plakatkunst, Avantgardekonzepte wie den Wiener Kinetismus oder auch kulturpolitische Projekte wie die "Kunststelle" des Roten Wien. Viele Akteure dieses gesellschaftlichen und künstlerischen Aufbruchs mussten spätestens nach der Machtergreifung der Nazis 1938 flüchten.

Flucht und Braindrain

Eine der schillerndsten Künstlerinnen der 1920er-Jahre war Erika Giovanna Klien, die heute weitgehend vergessene Konstrukteurin des "kinetischen Marionettentheaters". Sie wanderte bereits 1929 in die USA aus. Auch der Architekt, Bühnenbildner und Technikvisionär Friedrich Kiesler, der mit seinen mechanischen Kulissen internationales Aufsehen erregte, emigrierte 1926 nach Amerika und verwirklichte dort viele seiner in Wien konzipierten Werke.

Der durch Nationalsozialismus und Antisemitismus ausgelöste Braindrain schwemmte mit Fritz Rosenfeld 1934 auch einen wichtigen Pionier der österreichischen Film- und Gesellschaftskritik ins britische Exil. In England reüssiert der einflussreiche Kulturredakteur der Arbeiter-Zeitung später als Friedrich Feld mit Büchern für "denkende Kinder". Diesen und anderen heute vergessenen Kultur- und Kunstaktivisten wird im digitalen Epochenarchiv der ihnen gebührende Platz eingeräumt. Kucher: "Es geht uns um die Rekonstruktion der kulturellen Bedeutung solcher Persönlichkeiten für die 1920er-Jahre."

In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich auch ein neues Frauenbild, zu dem erstmals unabhängige "Junggesellinnen" gehörten, die sich ihr eigenes Geld als Sekretärinnen, Journalistinnen oder Autorinnen verdienten. Die Figur der ungebundenen jungen Frau prägte die Literatur, Filme und Zeitschriften. In der Folge bekam auch die Mode einen immer größeren Stellenwert.

Erika Giovanna Klien war eine wichtige Vertreterin des Wiener Kinetismus, der an den Kubismus und den Futurismus angelehnt war. Das Bild "Tauchender Vogel" entstand 1939 im New Yorker Exil.
Foto: Wiener Belvedere

Hygiene und Körperkultur

Um zu rekonstruieren, welche Themen die Menschen damals bewegten, haben die Forscher 25 Zeitungen und Zeitschriften durchforstet, die in diversen Archiven wiederentdeckt wurden. Mehr als 30 Ausstellungen, die in Wien zwischen 1920 und 1933 zu verschiedenen aktuellen Themen gestaltet wurden, fließen in das Epochenprofil ein. "Eine sehr dominante Position nahmen dabei etwa Hygiene und Körperkultur ein", sagt Kucher. "Diese Themen waren ein wichtiger Aspekt der Sozial- und Gesundheitspolitik des Roten Wien."

Überhaupt prägte das Rote Wien in den 1920ern das Leben vieler Wiener – wie auch die ambitionierte Kulturpolitik der Stadt. So gab es beispielsweise von 1919 bis 1934 eine "Sozialdemokratische Kunststelle", die ermäßigte Theater- und Konzertkarten vergab, eigene Kinos betrieb, Arbeiter-Symphoniekonzerte, Museumsführungen, Dichterlesungen oder kulturpolitische Vorträge organisierte. Viele maßgebliche Persönlichkeiten aus der damaligen Kunst- und Kulturszene waren an diesen Aktivitäten beteiligt.

Bislang gingen aus dem großangelegten Forschungsvorhaben und seinen Vorgängerprojekten bereits fünf Bücher hervor – unter anderem zur Radioästhetik und -kultur, über das Jahr 1928 oder die unterschiedlichen Positionen in der österreichischen Literatur zwischen 1918 und 1933/38. Für heuer sind noch zwei Workshops mit nachfolgenden Publikationen über Alltagskultur sowie den urbanen Raum geplant.

Das gesammelte Wissen soll schließlich in die neue Onlineplattform fließen, die als umfassendes virtuelles Archiv des Wiener Kulturlebens der Zwischenkriegszeit auch jenen Menschen, Werken, Diskursen und Projekten Raum gibt, die trotz ihrer Bedeutung für die "wilden 20er-Jahre" im Bild der Zwischenkriegszeit bis jetzt nicht zu finden waren.
(Doris Griesser, 6.5.2016)