Im Business-Alltag brauche es weit mehr als eine gute Figur zu machen, sagt Kai Oppel – es gehe darum, eigene Werte wieder zu entdecken, um Mündigkeit. Wer mündig handle könne "getrost einmal beim Spaghettiessen kleckern oder das Sakko falsch knöpfen."

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Kai Oppel: "Es ist bemerkenswert, wie viele Menschen heute nicht mehr den Namen der Straße, in der sie stehen, kennen, weil ihnen den ihre App sagen kann. Wir sollten uns das Denken nicht abnehmen lassen."

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Das Sakko ordentlich zuknöpfen, anderen die Tür aufhalten, Servietten richtig benutzen: 220 Jahre nach dem Tod des Freiherrn Adolph Knigge werde sein bekanntes Werk "Über den Umgang mit Menschen" allzu oft missinterpretiert, sagt Kai Oppel, Autor des kürzlich erschienenen Buches "Die Knigge-Kur". "Knigge gilt heute fälschlicherweise als Synonym für Benimmregeln. Wer Knigge aber darauf reduziert, erreicht damit das Gegenteil von dem, was der Autor ursprünglich beabsichtigt hat". Dabei könnten Knigges eigentliche Gedanken im Zeitalter der Digitalisierung mehr denn je helfen, Herr oder Herrin seiner selbst zu bleiben, sagt Oppel – im Interview erklärt er wie.

STANDARD: Herr Oppel, der Untertitel Ihres Buches "Die Knigge-Kur" lautet: "So befreien Sie sich von unsinnigen Benimmregeln und falschen Karrierehelfern". Was spricht denn dagegen, beim Telefonieren den Raum zu verlassen oder sich beim Niesen die Hand vor die Nase zu halten?

Oppel: Gegen gewisse Benimmregeln spricht erstmal nichts. Sie sind eine Frage der Höflichkeit. Ich rate Leserinnen und Lesern auch nicht dazu, Kollegen die Tür vor der Nase zuzuschlagen oder Frauen nicht in den Mantel zu helfen oder den Chef zu duzen. Was ich herauszuarbeiten versuche, ist, dass die Anwendung von Benimmregeln nur oberflächlich ist, wenn sie nicht dem wahren Charakter eines Menschen entsprechen und nur dazu dienen, gut da zu stehen.

STANDARD: Das heißt, derjenige, der meint, ein Business-Kostüm würde nicht zu ihm passen – sollte ein solches auch in wichtigen Meetings nicht tragen?

Oppel: Natürlich gibt es im Business-Alltag Grundregeln, so ehrlich muss man sein. Wer sich auf die Finanzbranche einlässt, sollte seine Jogginghose gegen einen Anzug tauschen. Kleidung, dessen muss man sich bewusst sein, ist stets nonverbale Kommunikation. Knigge, auf den ich in meinem Buch ja Bezug nehme, hat jedoch dem Thema Kleidung nicht so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Er schrieb in etwa: "Kleide dich nicht unter- und auch nicht übertrieben. Kleide dich so, wie es angemessen ist." Er rät also, sich nicht zu verkleiden sondern das anzuziehen, worin man sich wohl fühlt. Also mündig zu handeln.

STANDARD: Auch Sie plädieren in Ihrem Buch für mehr Mündigkeit. Wie definiert sich die?

Oppel: Wichtig ist zunächst, sich der Werte bewusst zu werden, nach denen wir leben. Diese wandeln sich ständig, gerade in den vergangenen Jahren haben sie sich stark verändert. Früher war der Großvater Schuster, der Vater und die Enkelkinder auch. Oder man hat bei einem Konzern angefangen, ist dort aufgestiegen und sein Leben lang dabeigeblieben. Kontinuität und Beständigkeit galten als das höchste Gut – und sie haben ein Stück weit zur Identität beigetragen. In den letzten Jahren hat es sich hingegen als Wert etabliert, sich sehr schnell anpassen zu können. Anpassung an sich ist jedoch kein Wert, da man von äußeren Faktoren und Bedürfnissen abhängig ist. Man sollte sich also erstmal gewahr werden: Wer bin ich? Wenn man das nämlich nicht weiß, ist man unmündig, weil man darauf angewiesen ist, sich danach zu verhalten, was einem andere vorgeben. Man hechelt gewissermaßen wie ein Hund dem Würstchen hinterher, wobei es heute die Wurst, morgen die Karotte und übermorgen das vegane Schnitzel ist…

STANDARD: Kann man Mündigkeit lernen?

Oppel: Auf jeden Fall kann man sich darum bemühen nachzudenken. Knigge hat sein Werk zur Zeit der Aufklärung geschrieben. Das Credo lautete damals: Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Was kann heute daran falsch sein, Vernunft walten zu lassen? Es kann doch nicht sein, dass Knigge heute für Diskussionen herhalten muss, ob man jetzt nach dem Niesen "Gesundheit" sagt oder nicht.

STANDARD: Wo sehen Sie in der aktuellen Arbeitswelt Beispiele für Unmündigkeit?

Oppel: Da gibt es eine Menge. Viele erkennen etwa nicht, dass sie selbst einem permanenten Zeitdiktat unterwerfen. Das hat seine Ursachen in der protestantischen Leistungsethik, die uns seit Jahrhunderten darauf programmiert, stets tätig zu sein. Deswegen stellen wir uns selbst Aufgaben. Doch wer zwingt uns zum Perfektionismus? Wer sagt, dass dies und das unbedingt immer noch gemacht werden muss? Es sind oft genug wir selbst – wir merken es nur gar nicht mehr.

Mündigkeit würde hier damit beginnen, sich zu fragen, ob Erfolg wirklich für jeden machbar ist, wenn er sich nur genug anstrengt. Oder ob es nicht auch äußere Bedingungen gibt, die entscheiden. Genug Menschen führt ihr Perfektionismus, der permanente Leistungsdruck ins Burnout.

STANDARD: Sie verwenden in Ihrem Buch auch den Begriff der "digitalen Mündigkeit" – was bedeutet er?

Oppel: Zunächst, dass man sich nicht zu sehr auf digitale Helfer verlassen sollte, die einem das Denken abnehmen. Es ist bemerkenswert, wie viele Menschen heute nicht mehr den Namen der Straße, in der sie stehen, kennen, weil ihnen den ihre App sagen kann. Heute ist fast alles durch Programme automatisiert – und wenn wir diese Programme nicht haben, sind wir total aufgeschmissen. Wir sollten uns das Denken nicht abnehmen lassen. Außerdem heißt digitale Mündigkeit, Herr oder Herrin der eigenen Daten zu sein. Es ist bequem, dass uns Programme kostenlos Suchergebnisse ausspucken, uns sogar vorschlagen, was wir anziehen oder essen sollen. Aber der Preis dafür sind die eigenen Daten. Der Weg führt in die Abhängigkeit derer, die über diese Daten verfügen. Dessen muss man sich bewusst sein.

STANDARD: Wir opfern unsere Mündigkeit also dem Komfort?

Oppel: Und der Schnelligkeit und der Effizienz. Wir müssen heutzutage bei allem schnell sein. Das fängt bei Logins an: Erst unlängst aber ich bei einem Online-Händler etwas gekauft und er hat mir die Möglichkeit gegeben, mich mit meinem Kundenprofil eines großen Versandhändlers einzuloggen, was ich getan habe. Das spart mir zwar Zeit, aber ich werde letztendlich meinen Daten dafür bezahlen. Digitale Apps sollten uns mehr freie Zeit verschaffen – in Wirklichkeit nutzen wir diese aber für nächste Aufgaben. Das beschleunigt weiter. Und wir haben das Gefühl, dass die Zeit nicht mehr reicht.

STANDARD: Stichwort Beschleunigung: Umfragen zeigen, dass ein großer Teil der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sofort auf E-Mails antwortet und sich von ihren Kommunikationspartnern erwarten, dass sie sofort zurückschreiben. Wie gelingt es, aus diesem Dilemma herauszukommen?

Oppel: Es fängt bei technischen Tricks an, die entschleunigen können. Zum Beispiel die Funktion der Push-Meldungen bei E-Mails auszuschalten. Das gleiche gilt für das Smartphone. Es geht darum, Funktionen zu deaktivieren, die einem sagen "Es ist etwas passiert". Denn es passiert fortlaufend etwas, aber die Frage ist: müssen wir sofort reagieren? Wenn man schnell auf ein E-Mail reagiert, gibt man letztlich die Geschwindigkeit vor. Zeit und Fristen sind nicht Gott gegeben, sie sind selbst gemacht – und oft selbst bestimmbar. (lib, 13.5.2016)