Im Kommentar der anderen im STANDARD vom 12. 5. 2016 klärt uns Kollege Bernd Wieser darüber auf, dass die Beauftragung des Vizekanzlers, die Agenden des Kanzlers ad interim zu übernehmen, ein echtes juristisches Missgeschick gewesen sei. Damit sei die schon politisch "heiße Situation" noch weiter verkompliziert worden. Offenbar waren weder der Bundespräsident noch seine Umgebung in der Lage, die maßgebenden Verfassungsbestimmungen richtig zu lesen; das kann nur der Kollege Wieser.

Bernd Wieser zitiert den Wortlaut des Art. 71 der Bundesverfassung, den er ebenso wie den Zweck der Bestimmung als eindeutig bezeichnet. Danach hätte mit der Fortführung der Aufgaben des Bundeskanzlers nur dieser selbst (er wollte das nicht) oder die Staatssekretärin im Bundeskanzleramt oder ein leitender Beamter (eine leitende Beamtin) dieses Ressorts betraut werden dürfen.

Die Absurdität dieses Ergebnisses ist evident; doch wäre dies für sich allein noch kein verfassungsrechtliches Argument. Im vorliegenden Zusammenhang hat man es aber mitnichten mit einem klaren Wortlaut zu tun. Der vorletzte Satz des Art. 71 der Bundesverfassung normiert, dass die für den Fall des Ausscheidens der gesamten Bundesregierung getroffenen Bestimmungen "sinngemäß" gelten, wenn einzelne Mitglieder aus der Bundesregierung ausgeschieden sind. Immer dann, wenn eine Bestimmung die "sinngemäße" Anwendung einer anderen vorschreibt, besteht kein klarer Wortlaut, sondern man muss eine vernünftige Interpretation finden, die den Gesamtzusammenhang der Regelung in Betracht zieht.

Im Fall der Demission der gesamten Bundesregierung hat der Bundespräsident ein breites Spektrum für die Entscheidung, wen er mit der Fortführung der Verwaltung und dem Vorsitz in der Bundesregierung betrauen will: Mitglieder der scheidenden Bundesregierung, mit der Fortführung der Verwaltung auch ein dem ausgeschiedenen Bundesminister beigegebener Staatssekretär oder ein leitender Beamter des betreffenden Bundesministeriums.

Der Vorsitz

Im Fall der Demission des Bundeskanzlers oder sonst eines einzelnen Bundesministers wäre dem Bundespräsidenten nach der Wieser'schen Interpretation dieses Spektrum genommen. Wenn der Betroffene selbst nicht betraut werden will, käme nur ein Staatssekretär oder ein leitender Beamter (Beamtin) in Betracht. Dies mag noch vernünftig sein, wenn es sich nicht um den Bundeskanzler selbst handelt. Denn diesem obliegt nach der Bundesverfassung auch der Vorsitz in der Bundesregierung. Mit dem Vorsitz in der Bundesregierung darf aber nach dem Wortlaut des Art. 71 der Bundesverfassung ein Staatssekretär oder ein leitender Beamter gerade nicht betraut werden.

Manchmal muss man auch absurde Auslegungsergebnisse zur Kenntnis nehmen. Das muss man aber nicht, wenn ein vernünftiger anderer Weg zur Verfügung steht. Und dieser bestand im vorliegenden Fall in der Tat darin, die Begriffe "scheidend" und "sinngemäß" in einer sinnvollen Gewichtung auszulegen. Diese hat der Bundespräsident hier vorgenommen. (Ludwig Adamovich, 13.5.2016)