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Das Osmanische Reich wurde schon vor dem 1. Weltkrieg totgesagt. 1916, während des Kriegs, schlossen Briten und Franzosen eine geheime Übereinkunft über die Aufteilung von "Asia Minor", des Vorderen Orients.

Foto: Royal Geographical Society

Wien – Die Lehrbeauftragte in Moderner Arabischer Geschichte predigt ihren Studierenden: "Sykes-Picot kann nicht abgeschafft werden, denn es wurde nie umgesetzt." Prompt kommt der berühmte Nahost-Professor aus Deutschland nach Wien und spricht in seinem Vortrag vom "Ende der Sykes-Picot-Grenzen".

Das tun auch die Propagandisten des "Islamischen Staats": Bei ihnen ist das ein Heilsversprechen, das Zerschlagen einer "aufgezwungenen Staatenordnung". Aber auch der kurdische Präsident im Nordirak, Massud Barzani, verlangt, dass das Unrecht, das den Kurden in Sykes-Picot angetan wurde – kein kurdischer Staat -, wieder gutgemacht werden muss. Was türkische, iranische und arabische Verschwörungstheoretiker darin bestätigt, dass der "Islamische Staat" ein von den westlichen Imperialisten erfundenes Instrument sei, um "Sykes-Picot zu vollenden". Das heißt, den Nahen Osten endgültig in ihnen gefällige Stücke zu zerlegen.

Auch die Russen waren dabei

Was hat es also mit Sykes-Picot, offiziell "Asia Minor Agreement", auf sich? Am 16. Mai 1916 zeichnete der britische Außenminister Edward Grey einen Brief gegen, den der französische Botschafter in London, Paul Jambon, am 9. Mai unterschrieben hatte: Ergebnis mehrmonatiger Verhandlungen zwischen den Diplomaten Mark Sykes und François Georges-Picot über britische und französische Einfluss- und Kontrollzonen auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches, mit dessen Auflösung nach dem 1. Weltkrieg gerechnet worden war – was ja auch tatsächlich eintraf. Dem Brief lag eine Landkarte bei (siehe oben).

Das Abkommen war geheim, und es widersprach den Zusagen für einen großen unabhängigen arabischen Staat, die die Briten zuvor dem Sharifen von Mekka, dem Haschemiten Hussein bin Ali, dafür gemacht hatten, dass er einen arabischen Aufstand gegen die Türken lostrat. In "Sykes-Picot" hingegen waren direkte Kontrolle (blau für die Franzosen, rot für die Briten) und Einfluss für die Zonen A und B vorgesehen.

Oft vergessen wird, dass Russland, Partner in der Triple Entente, im Gebiet der heutigen Türkei, inklusive Istanbul, und Armenien abräumen sollte. Nach der bolschewistischen Revolution 1917 wurde die Vereinbarung in der Iswestija und der Prawda publiziert, um die Imperialisten bloßzustellen. Da hatte London auch schon in der Balfour-Erklärung den Zionisten Unterstützung bei der Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina zugesagt.

Alles kam anders

Aber nach dem Krieg kam ohnehin alles anders: Die neue Ordnung wurde bei einer Folge von Konferenzen entworfen, wobei der Vertrag von Sèvres 1920, der die Resttürkei zu einem Kleinstaat reduzierte, auch bald schon wieder hinfällig war: Mustafa Kemal (Atatürk) schuf neue militärische Tatsachen am Boden. In Sèvres war auch die Idee einer kurdischen Unabhängigkeit geboren worden, auch sie überlebte nicht bis zur Konferenz von Lausanne 1923, die der neuen Türkei ihre Grenzen gab.

Wäre es nach den Briten gegangen, sie hätten schon bald nach der Fertigung Sykes-Picot wieder zerrissen: Viel zu viele Konzessionen an die französischen Wünsche hatte Sykes gemacht – die Kooperation mit den Arabern hatte etwa bei T. E. Lawrence durchaus auch ein antifranzösisches Motiv.

Es ist richtig, dass sich Sykes-Picot quasi als territoriale Schablone nach Ende des Kriegs erhalten hat – und bis heute als Symbol für den europäischen Kolonialismus. Aber das System war längst ein anderes: Die Zeit der "Bürde des weißen Mannes", der direkten Herrschaft, neigte sich nicht zuletzt durch den Einfluss von US-Präsident Woodrow Wilson dem Ende zu. Der neu gegründete Völkerbund – Vorläufer der Uno – vergab bei der Konferenz von San Remo 1920 Mandate für die neugegründeten Staaten: Syrien und Libanon an Frankreich, Irak und Palästina an Großbritannien. Transjordanien entstand durch Teilung des Palästina-Mandats.

Weg zur Unabhängigkeit

Aufgabe des Mandatsinhabers war es, seinen Staat auf die Unabhängigkeit vorzubereiten. Überflüssig zu sagen, dass Paris und London zuerst möglichst direkt Macht ausüben wollten und erst, als die Schwierigkeiten zu groß wurden, nach und nach losließen – aber versuchten, ihren Einfluss über die Unabhängigkeit hinaus zu sichern. Die Franzosen versuchten, das schwierige Syrien durch Fraktionierung des Landes in den Griff zu bekommen.

Die "Grenzen der Staaten" wurden jedenfalls nicht von den Herren Sykes und Georges-Picot gezogen, sondern allenfalls im Geiste von Sykes-Picot. Und nicht immer "willkürlich", sondern durchaus auch entlang früherer osmanischer Verwaltungsgrenzen.

Auf der Sykes-Picot-Karte ist zu erkennen, dass das osmanische Vilayet Mossul ursprünglich französisch werden sollte: Paris erlaubte den Briten jedoch, es ihrem neuen Irak zuzuschlagen, der dadurch nicht nur mehr Ölquellen, sondern auch eine den Briten wichtige demografische Stärkung der Sunniten vis-à-vis den Schiiten erfuhr. Im Gegenzug unterstützte Großbritannien den Anspruch Frankreichs auf Elsass-Lothringen. Eine Hand wäscht die andere. (Gudrun Harrer, 15.5.2016)