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Die große Kluft wird kleiner. Suche nach etwas Verwertbarem in der chinesischen Stadt Guiyang.

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Notwendig sei eine Umverteilung von Vermögen, sagt der US-Ökonom Branko Milanović.

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STANDARD: Die meisten Menschen haben das Gefühl, die Kluft zwischen Arm und Reich werde immer größer. Sie haben das Thema ausgiebig erforscht. Wird die Welt laufend ungleicher?

Milanović: So einfach ist es nicht. Es kommt darauf an, über welche Art von Ungleichheit wir sprechen. Auf globaler Ebene gehen die Einkommensunterschiede zwischen den Menschen seit dem Jahr 2010 zurück. Das liegt an den sehr hohen Wachstumsraten in asiatischen Ländern wie Indonesien, Vietnam, China und Indien. Hunderte Millionen von Menschen profitieren hier von höheren Einkommen, weshalb die globale Kluft kleiner wird. Innerhalb von Nationen ist das Bild ein ganz anderes: Besonders in den USA, aber auch in Großbritannien und den meisten anderen europäischen Ländern wächst die Ungleichheit.

STANDARD: Der französische Starökonom Thomas Piketty vertritt die Meinung, dass im Kapitalismus die Konzentration von Einkommen und Vermögen automatisch zunimmt. Diese Entwicklung wurde historisch nur von Ereignissen wie Kriegen oder Revolutionen unterbrochen. Sie vertreten eine andere These in Ihrem neuen Buch.

Milanović: In der Tat. Was ich zu zeigen versuche, ist, dass sich die Einkommensdifferenzen, historisch betrachtet, zyklisch entwickeln. Auf eine Periode mit wachsender folgt eine Zeit mit sinkender Ungleichheit. Vor der industriellen Revolution, zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert waren die treibenden Kräfte hinter dieser Entwicklung Krieg und Krankheiten, also bösartige Einflussfaktoren, wie ich das nenne.

STANDARD: Krankheiten?

Milanović: Ja. Nach jeder Pestepidemie in Europa ist die Einkommenskluft kleiner geworden. Wegen der vielen Todesopfer wurde Arbeitskraft zur Mangelware, sodass die Löhne steigen mussten. Kriege wiederum haben die Kluft reduziert, weil die Gewalt in der Regel zur Vernichtung großer Vermögenswerte geführt hat.

STANDARD: Was sind die Einflussfaktoren seit Beginn der Moderne?

Milanović: Kriege und Epidemien spielen nach wie vor eine Rolle, aber andere Kräfte wie Umverteilung, Bildung, Gewerkschaften und der Wohlfahrtsstaat sind hinzugekommen. Nehmen Sie das Beispiel der USA und Großbritanniens: Die Einkommensungleichheit ist in beiden Ländern nach den Napoleonischen Kriegen stark gestiegen. Im Falle Großbritanniens dauerte diese Phase bis 1870, im Falle der USA bis 1920. Danach setzte eine Trendwende ein: Wegen der hohen Kosten für den Zweiten Weltkrieg wurden die Steuern erhöht, was zu mehr Verteilungsgerechtigkeit geführt hat. Zugleich wurde das Bildungssystem ausgebaut, was mehr Menschen eine Teilhabe am Erwerbsleben ermöglichte. Die Gewerkschaften erkämpften höhere Löhne et cetera. Das alles hatte zur Folge, dass die Kluft bis etwa 1980 immer kleiner geworden ist. Seither geht die Schere wieder auf.

STANDARD: Woran liegt das?

Milanović: Der wichtigste Grund in der westlichen Welt betrifft die starke Konzentration von Finanzvermögen. Rund ein Prozent der Bevölkerung hält 40 Prozent des Aktien-, Geld- und Anleihenbesitzes in Händen. Nun entfällt aber ein immer größerer Teil der Haushaltseinkommen nicht auf Arbeit, sondern auf diese Formen des Kapitals. Die logische Folge ist daher, dass die Ungleichheit zunimmt. Mit den Rezepten aus der Vergangenheit lässt sich nicht mehr gegenlenken. Da das Kapital heute mobiler ist als je zuvor, können die Steuern kaum erhöht werden, weil es sonst in ein anderes Land abgezogen wird. In Europa lässt sich auch der Sozialstaat nicht mehr ausbauen, weil er schon als kostspielig empfunden wird.

STANDARD: Sollte man gegen die wachsende Kluft in trotzdem wohlhabenden Gesellschaften etwas tun, und wenn ja, was überhaupt?

Milanović: Es gibt die These, dass die steigende Kluft das Wirtschaftswachstum bedroht. Aber hier ist die Beweislage nicht sehr eindeutig. Überzeugt bin ich davon, dass die Entwicklung für den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft gefährlich ist. Notwendig wäre also die Umverteilung, also die Dekonzentration von Finanzvermögen. So könnte man mit Steuervorteilen Menschen locken, um in Finanzkapital zu investieren. Zugleich sind auch die verschiedenen Modelle zur Beteiligung von Arbeitnehmern an den Unternehmen, die sie beschäftigen, interessant. Es müssten Maßnahmen erprobt werden, damit jene, die derzeit über keinerlei Kapital verfügen, etwas bekommen.

STANDARD: Wie wirkt sich Migration auf Ungleichheit aus?

Milanović: Migration senkt die Ungleichheit auf einem globalen Level, und zwar noch stärker als der freie Fluss von Kapital. Denn Zuwanderung ist ein gutes Mittel, um Armut zu bekämpfen, wobei es auch bei diesem Thema komplizierter wird, wenn man weiter in die Tiefe geht.

STANDARD: Was meinen Sie?

Milanović: Nach den meisten Studien führt Migration in ein Zielland nicht dazu, dass die Löhne dort sinken. Doch das gilt nicht für alle Gruppen. Jene Menschen, die in direktem Wettbewerb mit den Migranten stehen, oft sind das schlecht ausgebildete Teile der Bevölkerung, können Einkommen einbüßen. Zugleich führt Zuwanderung auch dazu, dass der Druck auf die Sozialsysteme in Europa weiterhin steigen wird.

STANDARD: Wegen der Kosten?

Milanović: Nein, nicht unbedingt. Eine der Erklärungen dafür, weshalb die USA im Vergleich zu Österreich oder Schweden über einen kleinen Wohlfahrtsstaat verfügen, ist, dass in den Vereinigten Staaten Armut lange Zeit als ein Problem der schwarzen Bevölkerung galt. Viele Weiße sahen keinen Grund darin, in ein Sozialsystem einzuzahlen. Je homogener eine Gesellschaft in puncto Ethnizität, Religion und Bildung ist, umso mehr sieht sich jeder Bürger selbst als ein möglicher Profiteur des Sozialstaates an. Umso höher ist auch die Bereitschaft, dafür zu zahlen. Die Flüchtlingsbewegung hat dazu geführt, dass Europa heterogener geworden ist. Die Frage ist also, ob die einheimische Bevölkerung weiterhin bereit sein wird, höhere Steuern und Abgaben zu bezahlen, wenn sie davon ausgehen, dass davon viele Migranten profitieren. Das muss nicht einmal der Fall sein. Es gibt viele Studien, die zeigen, dass Migration den Sozialsystemen einen Nettoprofit bringt, weil die Einwanderer meist jung sind. Der Eindruck reicht. Ich denke, Europa wird den USA insgesamt ähnlicher werden. (András Szigetvari, 19.5.2016)