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Norbert Hofer, Heinz-Christian Strache: Von ihrer Wahlniederlage wussten nur die Kommentatoren.

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Das Archiv ist die Rache des Journalisten am Politiker, doch manchmal wird unsereins mit den eigenen Waffen geschlagen. Dem Autor dieser Zeilen treibt es etwa die Schamesröte ins Gesicht, wenn er in den Untiefen des eigenen Werkes auf einen Artikel aus dem vergangenen Winter – das genaue Datum wird verschwiegen, so viel Selbstschutz muss sein – stößt. Eine "Schonzeit" für die Koalition breche mit dem neuen Jahr an, belehrte er die Leserschaft damals, zumal eine Bundespräsidentenwahl "realpolitisch" keine weitreichenden Folgen mit sich bringe.

Einen Kanzlersturz später bleibt nur der Trost, in bester Gesellschaft zu sein. Der laufende Wahlkampf entfachte eine wahre Meisterschaft in der Disziplin der Fehlprognosen, mit einem Höhepunkt rund um die Nominierung von Norbert Hofer. "Also wird der erfolgsgewohnte Parteichef Strache am Wahlabend vor laufenden Kameras eine Wahlniederlage schönreden müssen", prophezeiten die "Salzburger Nachrichten", der "Kurier" schrieb: "An der doppelten Niederlage" werde Strache noch länger "zu kauen" haben: Erst schieße ihm die Basis seine Kandidatin Ursula Stenzel bei der Vorwahl ab, dann komme der Ersatzmann "nicht einmal über die Vorrunde hinaus".

Der chancenlose Hofer

Die "Presse" sah in Hofer den Beweis für die "dünne Personaldecke" der FPÖ, ein Kolumnist der "Vorarlberger Nachrichten" gar den Beleg, dass es schwarz-blaue Absprachen geben müsse – anders sei die Kür des "harmlosen" Kandidaten nicht zu erklären. Die Goldmedaille geht aber an "Österreich", das unlängst ja auch bis zum bitteren Ende den todsicheren Verbleib von Werner Faymann an der SPÖ-Spitze beschworen hatte. "Die FPÖ wird es bei der Hofburg-Wahl schwerhaben, ein Stimmendebakel zu vermeiden", orakelte das Boulevardblatt: "HC Strache hat natürlich seit Wochen gewusst, dass Hofer in den Umfragen chancenlos ist. Warum er zu dem faden Blauen (…) keine brauchbare Alternative gefunden hat, weiß nur er." DER STANDARD enthielt sich in diesem Fall übrigens einer verfänglichen Einschätzung.

Medien irren nicht erst seit gestern, schließlich sind Prognosen – um eine weitere Binsenweisheit zu zitieren – besonders schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Doch die aktuellen Verhältnisse bieten einen besonders fruchtbaren Boden für Trugschlüsse. Journalisten werfen Politikern zwar gerne vor, den Zug der Zeit zu verschlafen, haben aber selbst Schwierigkeiten, sich von eingelernten Denkmustern zu lösen. Dass die Stimmung in der Bevölkerung selbst einen vermeintlich biederen Nobody zum Triumphator über die Regierungsparteien machen könnte, lag außerhalb der von ewiger rot-schwarzer Dominanz geprägten Vorstellungskraft.

Die Verführung der Postings

Andere Faktoren: Knappe Personalstände in den Medien erhöhen den Zeitdruck ebenso wie das mit dem Onlinejournalismus rasant gesteigerte Tempo, die Nachdenkpause bleibt mitunter auf der Strecke. Die Konkurrenz ist gewachsen, eine polarisierende Meinung verspricht Aufmerksamkeit – und viel Resonanz in den Internetforen.

Wollen klassische Zeitungen ihre Existenzberechtigung erhalten, dürfen sie sich aber nicht von den sozialen Medien, wo Urteile gerne spontan abgelaicht werden, treiben lassen. Starke Meinungen ja, aber auf Basis von Recherche und Reflexion. Dabei braucht es gelegentlich auch den Mut zum Eingeständnis, dass manche Sachverhalte eben keine knackige, eindeutige Einschätzung zulassen – selbst wenn dann Postings ausbleiben. (Gerald John, 19.5.2016)