Ende Mai starteten weitere Galileo-Satelliten von Französisch-Guayana ins All. Das eigene Navigationssystem soll Europa unabhängig vom US-System GPS machen.

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Jean-Jacques Tortora plädiert für höhere Investitionen.

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STANDARD: Welchen globalen Stellenwert hat aus Ihrer Sicht die europäische Raumfahrt?

Tortora: Wir sind in einer paradoxen Situation. Die Ergebnisse der europäischen Raumfahrt sind hochangesehen. Während andere Weltraummächte aber massiv investieren, hat Europa einen liberaleren Fokus. Weltraumtechnik ist hier eher ein Bereich für die Entwicklung wirtschaftlicher Anwendungen. Auf der einen Seite gibt es große Errungenschaften, auf der anderen ist man schüchtern bei neuen, ambitionierten Wissenschafts- und Explorationsprogrammen.

STANDARD: Was fehlt also?

Tortora: Im Moment liefern wir vor allem im Rahmen internationaler Kooperationen Beiträge – was großartig ist. Angesichts seines technologischen und industriellen Niveaus könnte sich Europa aber auch eigene Initiativen leisten. Im Moment investiert die EU in Relation zum Bruttosozialprodukt viel weniger als alle anderen Weltraummächte. Für die nächste Dekade ist es meine Hoffnung, dass die EU ihre Investitionen auf deren Niveau anhebt. Dann wäre Europa Weltspitze.

STANDARD: Die EU-Kommission arbeitet zurzeit an einer gemeinsamen Weltraumstrategie. Was erwarten Sie sich?

Tortora: Ich glaube, die großen Ziele sollten sein, dass der Weltraum für Europa zugänglich und sicher bleibt. Zugänglichkeit hängt vom richtigen Raketensystem ab – aber nicht nur. Es braucht etwa auch leistungsfähige Satelliten und damit die industriellen und technologischen Fähigkeiten, um entsprechende Programme zu liefern.

STANDARD: Inwiefern muss der Weltraum sicherer werden?

Tortora: Menschliche Aktivität im Weltraum produziert Müll. Um die Entstehung neuen Schrotts im Orbit einzuschränken, müssen wir uns mit allen Weltraummächten koordinieren. Wir sollten sie überzeugen, entsprechende Regeln anzuwenden. Zudem könnte es in Zukunft notwendig werden, einen Teil des bestehenden Weltraummülls zu entfernen. Europa hat bisher nicht in die Kapazitäten dafür investiert. Probleme werden zudem durch das Weltraumwetter verursacht, etwa nach Sonneneruptionen. Da müssen wir un-sere wissenschaftlichen Grundlagen verbessern, um verlässliche Weltraumwettervorhersagen zu etablieren.

STANDARD: Nach dem Kalten Krieg wurden die Weltraumstrategien neu ausgerichtet. Wie sieht ihr Rückblick auf die letzten Jahrzehnte aus?

Tortora: Der Wettlauf um die Vorherrschaft im All, der von den USA in den 1980ern initiiert wurde, hat zum Kollaps der Sowjetunion beigetragen, die mit den hohen Investitionen der USA nicht mithalten konnte. Russland erholt sich aber und hat die Ambition, wieder eine erstrangige Weltraummacht zu werden. Sie sind in Bereichen wie etwa der Erdbeobachtung noch ein wenig hinten, aber nach wie vor fähig, eindrucksvolle Kapazitäten im Weltraum zu entfalten. In den USA hat das Ende des Kalten Kriegs überraschenderweise die Investitionen verstärkt. Man sah die Chance, die Vorreiterrolle zu festigen. In Europa war die Situation hingegen stabil. Selbst die Finanzkrise hat die Gesamthöhe der Investments und den Umfang der Aktivitäten kaum beeinflusst. Jene EU-Mitgliedstaaten, die wie Spanien oder Italien stark von der Finanzkrise getroffen wurden, haben nicht in derselben Geschwindigkeit mitgehalten. Das wurde aber von Zuwächsen in anderen Ländern, etwa in Polen, ausgeglichen.

STANDARD: Die USA streben bemannte Flüge zum Mars an. Sollte Europa, das im Zuge der ExoMars-Mission einen Rover zum Roten Planeten schickt, das auch tun?

Tortora: Es gibt viele Gründe, warum Europa im Moment keine bemannte Mission zum Mars in Betracht zieht. Die große Erwartung ist, dass man Beweise für früheres Leben auf dem Mars findet. Würde etwa der US-Rover Curiosity diese Beweise tatsächlich finden, dann hätte ich keine Zweifel, dass Europa auch zu einer bemannten Mission beitragen würde.

STANDARD: Warum versucht man nicht, mit den USA mitzuhalten?

Tortora: Die USA sieht die Gelegenheit, ihren Führungsanspruch zu festigen. Europa beteiligt sich aber nicht an einem Wettlauf zum Mars. Wir haben einen viel pragmatischeren Ansatz. In den USA, Russland oder China gehört es zudem zum Nationalstolz, bemannte Weltraumflüge unternehmen zu können. Wenn aber ein europäischer Astronaut die Internationale Raumstation erreicht, kümmert es uns nicht sehr, ob er oder sie dänisch oder italienisch ist. Europäische Flüge zu unternehmen hat jetzt noch keinen Sinn. Wir sollten alle daran arbeiten, dass sie einmal Sinn ergeben.

STANDARD: Es gibt auch einen Wettlauf im privaten Sektor mit US-Firmen wie SpaceX. Was könnte Europa tun, um hier im stärkeren Ausmaß mitzuspielen?

Tortora: Obwohl der private Raumflug in den USA stattfindet, gibt es dennoch substanzielle Beiträge Europas. Der Wettlauf existiert, weil ihn die US-Regierung haben will und ihn stark unterstützt. Das funktioniert, weil der US-Markt dank all der Nasa- und Militärflüge riesig ist. Europa hat das nicht. Die Zutat, die fehlt, ist ein großer heimischer Markt. Die Errungenschaften von SpaceX sind beeindruckend. Was das Unternehmen aber noch nicht gezeigt hat, ist, wie es Geld verdienen kann. Wir haben einiges zu lernen, vor allem über die Schnittstellen zwischen Weltraumagenturen und Industrie. Wir leben aber nicht in verschiedenen Welten. Europa bleibt im Rennen. Mit der in Entwicklung befindlichen Ariane-6-Rakete wird sich die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Starts stark verbessern.

STANDARD: Vor kurzem wurden weitere Galileo-Satelliten ins All geschickt. Das Navigationssystem soll nun in wenigen Jahren voll funktionsfähig sein. Welche Auswirkungen wird das auf Europas Weltraumindustrie haben?

Tortora: Der Start war schwierig, das Programm ist aber ein Meilenstein. Europa wird mit anderen Weltraummächten gleichauf sein. Wir zeigen damit, dass wir die Kapazität haben, ganze Satellitenkonstellationen zu bauen. Selbst die USA haben, nach ihrer ablehnenden Haltung zu Beginn, Interesse bekundet, Galileo als Ergänzung zu GPS zu verwenden. Für uns werden sich die Genauigkeit und die Verfügbarkeit des Signals verbessern – wir werden nicht wissen, ob wir gerade GPS oder Galileo verwenden.

STANDARD: Wie beurteilen Sie Österreichs Weltraumaktivitäten?

Tortora: Österreich war immer ein effektiver und konstruktiver Partner der Weltraumagentur Esa, auch im Bereich der Weltraumpolitik. Dass das ESPI in Wien ist, ist sinnvoll, weil viele internationale Organisationen hier angesiedelt sind. Es ist zudem ein neutraler Ort abseits von Brüssel und dem Esa-Sitz Paris. (Alois Pumhösel, 1.6.2016)