Starbucks oder Häagen-Dazs? Ach, immer diese Entscheidungen im Leben. Aber es ist auch die wichtigste Frage auf der Suche nach dem authentischen China der Jetzt-Dynastie. Schanghai ist nach der Sonderwirtschaftszone Shenzhen und der autonomen britischen Exkolonie Hongkong Chinas reichste Stadt. Und Häagen-Dazs wirbt derzeit in ganz Schanghai auf Plakaten mit dem einleuchtenden Slogan: Wenn du sie liebst, kauf ihr ein Eis!

Es wird dann doch eine kleine Starbucks-Filiale in Pudong. Das Stadtviertel liegt am östlichen Ufer des Huangpu-Flusses, der diese Megacity in zwei Hälften teilt. 24 Millionen Menschen leben in dem Großraum. Pudong ist so etwas wie das pulsierende Herz des modernen China. Würden Marsianer die Erde umfliegen, um jene Stelle zu finden, wo die Wirtschaft am meisten boomt, sie würden wohl genau gegenüber von dieser Starbucks-Filiale im Schatten mächtiger Wolkenkratzer landen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Pudong, Schanghai: Das pulsierende Herz des modernen China.
Foto: REUTERS/Aly Song

Für den Caffè Latte bezahlt man 33 Yuan, rund 4,50 Euro, und mit seinem cremigen Häubchen ist er so etwas wie eine wundersame Metapher für das heutige China. Vor dreißig, vierzig Jahren war China das Land der Radfahrer, der blauen Mao-Anzüge und der Grünteetrinker. Jetzt gibt es in Chinas großen Städten sechsspurige Autobahnen, Megastaus, keine Mao-Anzüge, kaum noch Radfahrer, aber auch 1.800 Starbucks-Filialen, mehr als in ganz Europa. Und der Caffè Latte in Pudong ist für einen Durchschnitts-Schanghaier, der zwischen 800 und 900 Euro im Monat verdient, rund viermal so teuer wie für einen Österreicher.

Gerade ausgepackt

Den Fortschritt in China kann man an allen Ecken und Enden sehen, aber man kann ihn auch erfahren. Bei einer Bahnfahrt von Schanghai nach Peking, in die Hauptstadt des Landes, zur Verbotenen Stadt, von der aus 24 Kaiser, unterstützt von rund 2.000 Beamten, hinter einander das riesige Reich regierten. Der Bahnhof in Schanghai ist riesig und blitzt und blankt, als ob er gerade ausgepackt worden wäre. China verfügt über das größte Hochgeschwindigkeitsbahnnetz der Welt: 19.000 Kilometer, mehr als alle anderen Staaten des Globus zusammen.

Der Hochgeschwindigkeitszug zwischen Peking und Schanghai war ein Prestigeprojekt.
Foto: imago/Xinhua

Die Verbindung zwischen Schanghai und Peking war ein Prestigeprojekt, dem heftige Diskussionen vorangegangen waren. Sollte man das bestehende Streckennetz in ganz China modernisieren oder auf Kosten der Nebenbahnen wichtige Strecken gleich auf die teure Hochgeschwindigkeitstechnik umrüsten? Die Kommunistische Partei Chinas entschied sich für die Hochglanzversion, die jetzt angeblich 80 Millionen Chinesen pro Jahr nutzen. Rund 25 Milliarden Euro hat die 1.318 Kilometer lange Strecke zwischen Peking und Schanghai samt 24 komplett neuen Bahnhöfen gekostet. Zeitweise arbeiteten bis zu 135.000 Menschen gleichzeitig an dem Projekt.

Drei verschiedene Klassen

Wer den hypermodernen Bahnhof in Schanghai betreten will, muss sich einer Sicherheitskontrolle unterziehen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, hat bekanntlich schon Lenin gesagt. Die Tickets kann man über Agenturen besorgen (für Langnasen ratsam), online reservieren oder am Bahnhof kaufen. Die Passagiere reisen je nach Geldbörse in drei verschiedenen Klassen. In der zweiten gibt es Dreierreihen, daher sollten sich Menschen mit ausgeprägter Mittelsitzallergie für die erste entscheiden, wo auch ein kleiner Snack gereicht wird. In der teuren Business-Class gibt es nicht nur warmes Essen, sondern auch Sitze, die man zu einem flachen Bett ausziehen kann. Jeder Wagon hat einen Hahn mit heißem Wasser zum Tee- oder Nudelkochen.

Massenansturm am Bahnhof Schanghai
Foto: APA/AFP/JOHANNES EISELE

Täglich verkehren 34 Highspeed-Züge zwischen Schanghai und Peking, gezogen werden sie abwechselnd von deutschen und von chinesischen Lokomotiven. Das Fahrgefühl ist überwältigend: leise und sanft wie in einem Daunenbett. Zeit zum Träumen. Es gibt einen alten Film mit Marlene Dietrich namens Shanghai Express. China und Südasien waren seit den späten Stummfilmtagen beliebte Regionen für romantische Hollywood-Abenteuer und Liebesgeschichten.

Schneller Flitzer

Die Dietrich spielt in Shanghai Express eine Hure namens Shanghai Lily, die von sich sagt: "It took more than one man to change my name to Shanghai Lily." Der Film spielt in der Zeit des chinesischen Bürgerkriegs, und alsbald kapert ein Rebellenführer den Zug. Das wäre bei dem raketenartig aussehenden Zuggeschoss heutiger Tage ein wenig schwierig, und so kommt statt eines Rebellen eine Stewardess, die chinesische Snacks verteilt: getrocknetes Fleisch, Ginkgo-Pastillen. Und schließlich: Häagen-Dazs. Wer sagt’s denn.

Der Harmony-Express fährt in den Pekinger Südbahnhof ein. Es ist 14.40 Uhr. Um 13.48 hätte der schnelle Flitzer eigentlich ankommen sollen. Statt vier Stunden und 48 Minuten Planfahrzeit hat es also fast eine Stunde länger gedauert. Angeblich, weil der Zug nur mit 300 statt mit den geplanten 350 Kilometern pro Stunde durchs Land gebraust ist. Das senke den Stromverbrauch um ein Fünftel, informiert ein mitreisender Ferrosexueller (Zugliebhaber). Die Räder hielten dadurch dreimal so lange. Aha. Irgendwie beruhigend, dass es auch in China einmal langsamer geht als geplant.

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: REUTERS/Stringer

Was hätten wohl jene Hofbeamten der Qing-Dynastie zu diesem Technikwunder gesagt, die im 19. Jahrhundert nach der Inspektion einer eigens errichteten, zwei Kilometer langen Vorführbahn den Bau von Eisenbahnen in China kopfschüttelnd abgelehnt hatten? Ihr Urteil lautete damals: Dampflokomotiven seien interessant, aber sinnlos. Sie würden die Verteidigung schwächen, die Felder zerstören und im Übrigen das Feng-Shui stören.

Peking empfängt einen grau in grau, blauer Himmel ist ein rares Gut geworden. Wirtschaftswunder haben ihren Preis: Ein Caffè Latte bei Starbucks kostet in Chinas Hauptstadt mehr als in London. Bleibt ja noch die überteuerte Kugel, die man sich bei Häagen-Dazs geben kann. (Karl Riffert, 3.6.2016)