Bei Familie da Silva hängen noch dicke braune Socken neben rosafarbenen Pullis auf der Wäscheleine und flattern über der Festungsmauer im Frühlingswind. Ein paar Meter höher tanzen Schwalben auf den Böen. Den Namen der Leute mit den warmen Sachen verrät das Klingelschild neben der Tür des Häuschens in einer Burganlage aus dem 11. Jahrhundert.

Die Türen der kleinen Souvenirläden und Geschäfte für Kunsthandwerk in den schmalen Kopfsteinpflastergassen sind noch verschlossen, sogar die Fensterläden verriegelt. Nur der Burgfried mit seiner Aussichtsplattform hat geöffnet. Wo im Hochsommer kaum ein Parkplatz zu bekommen ist, stehen an diesem Vormittag bloß drei Autos vor der über zwölf Meter hohen Umfassungsmauer aus dem Mittelalter.

Socken vor dem Sturm

Noch ist wenig los im Bilderbuch-Festungsort Monsaraz. Es ist die Ruhe vor dem Sturm im Alentejo, tief im Hinterland Portugals. Dort, wo die Socken im Wind trocknen und niemand den Alltag versteckt oder wegrenoviert hat. Dort, von wo aus man schon Spanien sieht und der Atlantik weit weg ist. Wo sich im Sommer Tagesbesucher durch enge Gassen schieben, rumpelt an diesem Tag nur der schmächtige Lieferwagen des Getränke-Grossisten zur einzigen offenen Bar – und muss die Außenspiegel einklappen, um gerade noch durchzukommen.

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Die Festungsstadt Monsaraz thront auf einem Hügel im portugiesischen Alentejo und geht nahezu nahtlos in eine Burganlage aus dem 11. Jahrhundert über.
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Es ist die stillste Seite Portugals, eine Landschaft aus sanften Hügeln, aus Korkeichenwäldern und Weinstöcken, aus Feldern. Vierzig Burgen gibt es hier, dazu Dörfer und kleine Städte, die nicht nur so aussehen, als hätte jemand vor vielen Jahrzehnten, manchmal schon vor Jahrhunderten die Uhren angehalten. Sie fühlen sich auch so an. Die Fahrt durchs Hinterland der Region Alentejo, die südlich von Lissabon beginnt und im Süden auf die Algarve trifft, ist eine Zeitreise. Es ist eine Gegend, wo die Eile Einreiseverbot hat. Eine, auf die niemals Bomben fielen. Ein Landstrich, dessen Gesicht noch alle seine Züge hat. Eine Region, die auf Schritt und Tritt vom Damals erzählt.

Im Schatten der Burg

Die Männer von Estremoz machen es an diesem Morgen wie immer: Sie stehen im Schatten der dortigen Burg, in die ein Hotel eingezogen ist, vor der "Bar Alentejo" und unter der hellblauen Leuchtreklame in der Straße Rossio Marquês de Pombal, trinken Café Galão, Espresso mit heisser Milch.

Die Männer schweigen miteinander oder plaudern leise und schauen alle ein bisschen traurig, ohne es wirklich zu sein. Weil sie Portugiesen sind, haben sie diese gewisse Ader für Melancholie. Lärm liegt ihnen nicht, lautes Geplapper auch nicht, und nur wenn man ganz genau hinhört, bemerkt man drinnen die Musik aus den Boxen an der Decke. Getragen ist sie, ein bisschen schmachtend. Und leise sowieso.

Das portugiesische Städtchen Marvao mit 180 Einwohnern wird wegen seiner Lage auf einem Felsplateau mitten im Naturpark Serra de Sao Mamede auch "Adlerhorst" genannt. Vom Burgfried aus genießt der Reisende eine einzigartige Rundum-Aussicht über den Alentejo bis ins benachbarte Spanien
Foto: APA/LISA GÖLTL

Die Frauen sind derweil auf der anderen Straßenseite. Auf dem Flohmarkt verkaufen manche von ihnen ihr bisheriges Leben und die Erinnerung an Oma und Opa – Familiengemälde, Geschirr, Besteck, Stickdecken. Ein Mann mit Glatze schüttet einen Karton alter Bücher vor seinem angejahrten VW-Bus aufs Pflaster und wird das, so wie es dort aussieht, an diesem Tag schon ein paar Mal gemacht haben. Andere knien zwischen den vergilbten Wälzern unter Platanen, blättern, schauen und erstehen kurz darauf 100 Jahre alte Schmöker für ein paar Cent.

Gegenüber hat eine rundliche Frau ihren Tisch aufgebaut, verkauft nichts als Schafsglocken an Lederhalsbändern in unterschiedlichen Größen – die gebrauchten für vier, die neuen für 15 Euro. Zu Pyramiden hat sie die Glocken aufgetürmt. Nirgendwo herrscht so viel Andrang wie bei ihr. Als wäre jeder zweite in Estremoz Schäfer und hätte dringend auf Nachschub gewartet.

Castelo de Vide im Norden des Alentejo lockt Reisende mit einer gut erhaltenen Altstadt, einer imposanten Burg und dem ehemaligen Judenviertel mit Portugals ältester Synagoge
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In vielen Orten des Hinterlands gibt es solche Märkte – meist einmal, in manchen zweimal pro Woche. Fremde sind dort die Ausnahme. Die meisten Gäste aus dem Burghotel von Estremoz wissen nichts davon, geraten allenfalls zufällig hierher, obwohl sie nur zwei Straßenkreuzungen weit gehen müssten. Vielmehr sind diese Märkte Treffpunkte der Einheimischen – und von denen ahnt kaum jemand, wie sehr sie Sehenswürdigkeit sein könnten: Weil sie tiefe Einblicke in den Alltag ermöglichen. Und weil sie Gelegenheit bieten, die Gegend zu schmecken.

Ein ungeahnt fröhlicher Mann mit grauem Haarkranz verkauft Honig, daneben einer Schinken und Hausmacherwurst vom schwarzen Schwein, gegenüber ein anderer aus dem Fenster eines Imbisswagens heraus frittiertes Gebäck mit reichlich Puderzucker. Ein Hahn kräht aus seinem viel zu kleinen Käfig – gar nicht angstvoll, eher voller Stolz. Und nebenan reicht eine Frau riesige Hühnereier über den Verkaufstisch, während Monica Moura mit der Zange im Akkord nach Ziegenkäse in einer Plastikwanne greift. Sie kommt kaum nach, kassiert 80 Cent für ein Stück, das im Supermarkt das Dreifache kostet.

Ausverkauft in Estremoz

"Ich weiß nicht, woran es liegt", sagt sie, "aber in Estremoz bin ich immer nach spätestens zwei Stunden ausverkauft. Egal, wie viel ich aus unserer kleinen Käserei mitbringe. Kein Markt läuft so gut wie dieser." Mehr mitbringen kann sie nicht, mehr gibt die Produktion des Familienbetriebs nicht her. Sie kassiert, greift wie aus Reflex mit der Zange in die inzwischen leere Plastikwanne – und muss dann selber darüber lachen.

Panoramablick auf das Dorf Monsaraz
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In Portel sind es an diesem Tag die Frauen, die vor einem Café stehen in der Hauptstraße, die vom glatten Landstraßenasphalt nahtlos ins Kopfsteinpflaster übergeht. Wieder thront die Festung über allem, wieder ist alles im Ort Alltag, nichts Museum – obwohl es für Fremde so aussehen mag. Ein paar Fassaden haben sie frisch gestrichen, das Pflaster ausgebessert, den Weg zum Burgtor aufgegraben, Leitungen verlegt und alles neu befestigt.

Burgwächterin bis zu Mittag

Nur das Schloss im Burgtor auszutauschen – dafür gab es keinen Grund. Der betagte Schlüssel ist über 20 Zentimeter lang. Mittags um eins klappert die Burgwächterin damit und mit ein paar kleineren: "Noch Nebensaison!", ruft sie und zuckt bedauernd mit den Schultern: "Wir schließen außerhalb des Sommers zu Mittag." Das scheint sinnvoll zu sein. Es sind nur zwei Besucher da, acht waren es diesen Vormittag insgesamt, und der Eintritt ist frei.

Was die Fremden hier wollten? Vergangenheit spüren, diese Ruhe erleben, durch die gemauerten Schießscharten fast exakt denselben Ausblick haben wie einst die Ritter der portugiesischen Könige. Von irgendwoher klingelt plötzlich ein Handy. Als ob es beweisen wollte, dass sich doch etwas verändert hat seit damals. Dass man sich durch diese Kulisse nur ja nicht täuschen lässt. (Helge Sobik, 5.6.2016)