Wien – Das neueste Asyl für Christoph-Marthaler-Figuren ist ein vergleichsweise komfortabler Ort. In der Halle G des Museumsquartiers hat ein mondäner Club die Pforten geöffnet. Die Wände sind mit Teak versiegelt, eine kreisrunde Theke dient als Kommandostand (Bühne: Duri Bischoff).

In dieser Atmosphäre ewiger, herrlicher Nacht wird Isoldes Abendbrot gereicht, Marthalers neueste Musiktheaterschöpfung. Entstanden ist dieses kleine Wunderwerk der Einbildungskraft in Zusammenarbeit mit Theatern in Hamburg und Basel. Und weil im Reich des Schweizers Marthaler ewiger Unernst herrscht, betritt der Theatermusiker Bendix Dethleffsen als erster die Bühne, ein bezopfter Kauz in roten Hosen. Er erzählt ein wenig betreten über das Schicksal einer Verschwundenen. Die Kurzsichtigkeit sei das Kreuz der Dame. Ein chirurgischer Eingriff habe sie errettet. Von nun an gilt: "Alles ist auch wirklich das, wonach es aussieht."

Foto: Simon Hallström

Besser kann man das Prinzip des Marthaler-Theaters nicht beschreiben. Herr Dethleffsen setzt sich ans Pianino, und das Päckchen Notenblätter rutscht ihm prompt vom Ständer. Eine reife, schöne Saaltochter betritt die Gaststätte. Auf Knopfdruck dreht sich eine Heimorgel in den Clubraum. Von nun an dominieren süßeste Gesänge die andächtige Stimmung; die musikbegeisterte Servicekraft ist niemand Geringerer als die schwedische Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter.

Von Otter gab zum Beispiel einst den herrlichsten Octavian der Welt. Hier klemmt sie sich – wundermild singend – hinter ein Mikroskop. Sie bekommt es bald mit einem Trio absonderlicher Herren zu tun, Figuren, wie sie so widerspenstig und verwegen eben nur Marthaler ersinnen kann.

Wage es keiner, eine Fabel hinter dem zweistündigen Treiben zu suchen! Dieser traumnah verworrene Abend gleicht einem letzten Liebesmahle. Als Erfrischung gereicht wird von "Isolde" ein teuflischer Liebestrank, stilvoll im Martini-Glas. Die albernen Herren verröcheln nach Genuss der Mixtur wie unter dem Einfluss von Blausäure.

Foto: Simon Hallström

Der Wunder passieren unzählige. Nach gemessenem Beginn (Beethoven, Bach) pflückt von Otter einen hübschen Strauß französischer Chansons. Die Herren finden es unendlich spaßig, sich auf ihren Hockern, von unsichtbarem Motor bewegt, im Kreis zu drehen. Man begegnet der Tendenz zur Selbstauflösung, die Marthaler-Schauspieler seit je bewegt hat: Ueli Jäggi, Graham F. Valentine, den Veitstänzer Raphael Clamer.

In dieser Versuchsanstalt der Weltüberwindung spielt Zeit nicht die geringste Rolle. Man genießt den Bolero als Alarmsignal, gesetzt für Klavier zu vier Händen. Man freut sich darüber, dass Dethleffsen den Standaschenbecher als Hocker vor der Orgel nützt. Von Otter aber wischt die Avancen ihrer Zausel beiseite. Sie ist Proserpina. Wer wie sie hier gelandet ist, erhält den schönsten Vorgeschmack auf die Unendlichkeit. Isoldes Abendbrot erinnert an Marthalers Basler Zeit, an die Erfindung der Langsamkeit, an die spröde Verweigerung, die hinter diesen Etüden des Welkens, des Trotzdem-weiter-Lebens liegt. (Ronald Pohl, 5.6.2016)