Flüchtlinge, die am 24. Mai von einem Rettungsboot aufgegriffen wurden, nachdem sie im Schlauchboot von Libyen nach Europa gewollt hatten. In den vergangenen Tagen sind an die 700 Menschen ertrunken.

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Patrick Kingsley, "Die neue Odysee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise". € 21,95 / 332 Seiten, H.-C.-Beck-Verlag, München 2016

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STANDARD: Sie erleben die derzeit stattfindende größte Massenmigration seit dem Zweiten Weltkrieg auf der Seite jener Menschen, die sich auf der Flucht befinden. Wie ergeht es Ihnen dabei?

Kingsley: Das sind bewegende Erfahrungen. Diese Menschen sind auf der Suche nach Sicherheit aus ihren Heimatländern geflohen. Sie haben ihr Leben in die Hände von kriminellen Schleppern gelegt, es auf dem Meer riskiert, und sie sind in dunkler Nacht durch Wälder gegangen. Wenn man Zeuge einer menschlichen Tragödie solchen Ausmaßes wird, kann man nicht anders, als ergriffen zu sein. Zugleich hat es etwas Inspirierendes, Menschen kennenzulernen, die für sich und ihre Familien eine bessere Zukunft schaffen wollen.

STANDARD: Mit welchen Erwartungen kommen die Flüchtlinge nach Europa?

Kingsley: Die Vorstellungen sind unterschiedlich. Diejenigen, die zu Beginn des Jahres 2015 kamen, wussten besser Bescheid, was sie erwartete. Sie verfügten über mehr Mittel und waren aktiver in der Planung ihrer Routen und Ziele. Im Verlauf des Jahres dachten die Menschen dann nicht mehr so intensiv darüber nach, wohin sie gehen sollten. Sie hörten, dass sie in Deutschland willkommener seien als in anderen Ländern, und so wollten alle nach Deutschland. Flüchtlinge, die im September, Oktober und November mit Bussen über den Balkan fahren konnten, sorgten sich weniger darum, was sie erwartete.

STANDARD: Es waren chaotische und gefährliche Szenen, die sich damals entlang der Flüchtlingsrouten abspielten. Sie führten zu der Forderung, den Flüchtlingen Visa auszustellen und sie mit dem Flugzeug einreisen zu lassen ...

Kingsley: Aus humanitärer und moralischer Perspektive ist das die einzige Antwort. Es ist aber auch die einzige vernünftige Vorgehensweise, um diese Krise zu bewältigen oder sie zumindest zu managen. Wir müssen es den Menschen ermöglichen, auf geordnete Weise nach Europa zu kommen. Europa steht nicht vor der Wahl: Einwanderung oder nicht. Wir können nur wählen zwischen geordneter oder chaotischer Einwanderung. Die Alternative, Einwanderung zu verhindern, gibt es nicht. Wir hätten dann nur wieder jene chaotischen Szenen mit Menschen, die im Meer ertrinken und in Lieferwagen ersticken.

STANDARD: Muss man davon ausgehen, dass die Flüchtlinge auf jeden Fall nach Europa kommen werden?

Kingsley: Man wird sie nicht abhalten können. Ich habe viel Flüchtlinge gefragt, warum sie die Gefahren auf sich nehmen, um nach Europa zu kommen, und sie antworteten mir, dass sie keine andere Wahl hätten. Die pragmatische Lösung kann daher nur darin bestehen, Mittel und Wege zu bereiten, um einer beträchtlichen Anzahl an Flüchtlingen eine legale Umsiedlung zu ermöglichen. Das betrifft nicht nur die EU, sondern auch die USA, Kanada, Australien und Neuseeland. Sie alle müssen an der Bewältigung der Flüchtlingskrise mitwirken.

STANDARD: Ist die Vereinbarung, die die EU mit der Türkei getroffen hat, ein richtiger Schritt in Richtung einer sicheren Einreise für die Flüchtlinge nach Europa?

Kingsley: So wurde dieses Abkommen dargestellt. Es werde Leben retten und den informellen Prozess der Migration nach Europa in einen formellen umwandeln. Wollte man das aber wirklich, würde man eine erhebliche Anzahl dieser Flüchtlinge umsiedeln, die sich da vergessen in der Türkei befinden, und nicht nur ein paar wenige. Ich fürchte, dieses Abkommen soll nur dazu dienen, die Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten. Das wird jedoch nicht gelingen. Kurzfristig mag es der Fall sein, dass wir mit dem Abkommen den Flüchtlingsstrom aufhalten. Aber dann werden die Menschen sich andere Routen suchen. Sie haben in Ländern wie der Türkei keine Zukunft. Es gibt für sie kein Recht zu arbeiten. Eine Arbeitserlaubnis bekommt nur, wer einen Arbeitsvertrag vorweisen kann. Den haben die meisten Syrer nicht, die für ihre Arbeit weit unterbezahlt werden. Europa bleibt die bessere Option für sie, auch wenn dessen Politik sich gegen sie wendet. Das scheinen die europäischen Politiker nicht zu begreifen.

STANDARD: Wie haben die Flüchtlinge dieses Abkommen aufgenommen?

Kingsley: Ich habe Gespräche dazu gehört. Die Menschen verfolgen, was auf den griechischen Inseln und an der mazedonischen Grenze geschieht. Sie warten ab und beraten über Routen, um nach Europa zu gelangen. Es haben sich bereits Schlepper gefunden, die Seerouten zwischen der Türkei und Italien auskundschaften. Noch sehen wir diese Bewegung nicht. Denn es bedarf der Planung, braucht Zeit und Geld. Aber die Menschen tauschen sich darüber aus. In Gesprächen, die ich hörte, wurde auch überlegt, von Libyen nach Italien zu gelangen oder über Bulgarien zu gehen. Man kann noch keinen Überblick gewinnen. Erst wenn sich die Menschen aufmachen, wird man wissen, was tatsächlich geschieht.

STANDARD: Ein Argument für das Abkommen ist es, den Schleppern damit das Handwerk zu legen ...

Kingsley: Das ist die Absicht. Aber das wird nicht geschehen. Schlepper finden sich immer, sobald ein Bedarf für ihre Dienste besteht. Man wird ihnen nur dann das Handwerk legen, wenn kein Bedarf mehr vorhanden ist, indem man den Flüchtlingen die legale Einreise nach Europa ermöglicht.

STANDARD: Wie sieht es mit Wirtschaftsflüchtlingen aus? Werden sie darauf verzichten, nach Europa zu gelangen, wenn sie wissen, dass sie zurückgeschickt werden?

Kingsley: Sie bilden eine Minderheit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemals möglich sein wird, sie davon abzuhalten, nach Europa zu kommen. Es wird immer Menschen geben, die es vorziehen, versteckt in Europa zu leben und auf dem Schwarzmarkt zu arbeiten, als arm in ihren Heimatländern zu bleiben.

STANDARD: Neben der Türkei haben Jordanien und der Libanon die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Aber die Kinder können da nicht einmal eine Schule besuchen. Wird das auf Dauer gutgehen?

Kingsley: Nein, es ist eine verrückte Idee, Ländern wie der Türkei, dem Libanon und Jordanien die Hauptlast der Flüchtlinge aufzubürden. Es scheint die Erwartung der EU zu sein, dass sie einfach Geld in diese Länder schickt, und dann bessert sich das Leben der Flüchtlinge da. Von Europa aus gesehen mag es als die beste Option erscheinen, die Flüchtlinge draußen zu halten, um die Krise im Inneren einzudämmen. Aber diese Länder sind nicht in der Lage, deren Leben vertretbar zu gestalten. Wir haben die Belastungen gesehen, denen Deutschland, Österreich und Schweden durch die Zuwanderung vieler Flüchtlinge im letzten Jahr ausgesetzt waren. Die Belastungen der Türkei, des Libanon und Jordaniens sind weitaus größer. Der Libanon etwa mit seinen 4,5 Millionen Einwohnern kann niemals eine Million syrische Flüchtlinge in seine Gesellschaftsstruktur integrieren. Er kann ihnen auch keine Arbeitserlaubnis erteilen oder sonst eine Perspektive eröffnen. Der Wunsch der Flüchtlinge, nach Europa zu gelangen, und sei es auf illegale Weise, wird bestehen bleiben.

STANDARD: Jetzt plant die EU ein ähnliches Abkommen wie mit der Türkei auch mit Libyen ...

Kingsley: Das ist ein unverantwortliches und unmoralisches Vorhaben. Ich kann gar nicht glauben, dass die EU wirklich ein solches Abkommen schließen möchte. Es muss doch unter den europäischen Politikern wenigstens einige geben, die ein wenig Ahnung von der Lage in Libyen haben. Das Land befindet sich in einem Bürgerkrieg. Es gibt da weder Rechte für Migranten noch ein Asylsystem. Selbst diejenigen, die selbst nach Libyen geflohen sind, wollen das Land wieder verlassen. Denn sie werden in Libyen wie Sklaven behandelt. Wie kann die EU annehmen, dass es auch nur praktisch möglich ist, Menschen in dieses Land zurückzuschicken? Mit welcher Regierung will sie darüber verhandeln? Das Land wird von drei rivalisierenden Regierungen beansprucht. Hinzu kommt eine erhebliche IS-Präsenz. Und wenn die EU mit der einen Regierung verhandelt, die immer noch von der Uno unterstützt wird, welche Zuständigkeit hat diese Regierung über die libyschen Institutionen? Wer garantiert für die Sicherheit zurückgeführter Flüchtlinge?

STANDARD: Wenn man liest, welchen Strapazen, Gefahren und Hindernissen die Flüchtlinge ausgesetzt sind, erstaunt es, wie friedlich und geduldig sie selbst menschenunwürdige Zustände in Lagern und endloses Warten ertragen. Besteht die Gefahr, dass es zu Unruhen kommt?

Kingsley: Es war nicht immer friedlich. Auf den griechischen Inseln und entlang der Flüchtlingsroute über den Balkan flackerten wiederholt Unruhen auf. Wenn man die Flüchtlinge in Lager sperrte oder sie von der Polizei geschlagen wurden, setzten sie sich zur Wehr. Insgesamt jedoch verhielten sie sich in Anbetracht der enormen Anspannung und der vielen Widrigkeiten ruhig. Ich sehe auch keinen Grund, warum das nicht so bleiben sollte. Mitunter wird die Befürchtung geäußert, mit den Flüchtlingen käme eine Flut von Terroristen, Vergewaltigern und ähnlichen Kriminellen nach Europa. Es ist unstrittig, dass Terroristen die Migrationswanderung über den Balkan benützt haben. Aber genau darum müssen wir Wege geordneter Massenumsiedlungen einrichten. Das ermöglicht es, die Menschen zu überprüfen. Europa muss sich engagieren. Das ist besser für die Migranten – und für die Europäer. (Ruth Renée Reif, Album, 4.6.2016)