"Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen wäre in der fleißigen Schweiz sicher keine Faulheits-Epidemie ausgebrochen." – Oswald Sigg, BGE-Initiativkomitee

Foto: Schweizerische Eidgenossenschaft

STANDARD: Warum haben Sie sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) für alle eingesetzt?

Sigg: Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist das Sozialwerk der Zukunft. Die Arbeitslosigkeit wird in Europa und in der Schweiz immer mehr zu einer Konstanten. Es wird in Zukunft nicht mehr genügend Erwerbsarbeit geben, damit jede und jeder sein Leben auf dem Arbeitsmarkt in Würde verdienen kann. Viele Menschen arbeiten unter krankmachenden Bedingungen, sie haben keine Sicherheit und keine Perspektive.

STANDARD: In der Schweiz gibt es aber gut ausgebaute Sozialversicherungen, die die Menschen unterstützen, wenn sie nicht mehr arbeiten können.

Sigg: Ja, auf dem Papier, in der Verfassung, ist das der Fall. In Wirklichkeit ist es aber so, dass die Menschen, die Sozialhilfe beziehen, von der Politik an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Die Sozialhilfe wird gekürzt, wenn sich die Leute nicht gemäß der Norm verhalten. Man schätzt, dass deshalb die Hälfte aller Bedürftigen ihr Recht auf Hilfe nicht in Anspruch nehmen, sondern sich irgendwie durchschlagen. Das heißt, dass für 250.000 Menschen in der Schweiz der Sozialstaat in der Praxis gar nicht funktioniert.

STANDARD: Dass die Erwerbsarbeit ausgehe, fürchtete man schon, als ein Bagger zehn schaufelnde Bauarbeiter ersetzte. Doch führte dies zu mehr Produktivität, Wirtschaftswachstum und neuen Stellen.

Sigg: Früher ersetzten Maschinen und Roboter monotone körperliche Tätigkeiten. Jetzt übernimmt der Roboter auch die Kopfarbeit. Experten schätzen, dass 50 Prozent der heutigen Berufe durch "Industrie 4.0" ganz verlorengehen, anders als bei früheren industriellen Revolutionen, die tatsächlich neue Arbeitsmöglichkeiten gebracht haben. Die neuen Roboter ersetzen den Menschen von der Fußsohle bis zum Scheitel. Man hat es auf den ganzen Menschen abgesehen.

STANDARD: Andererseits leben wir länger. Es braucht mehr Pflege-, Betreuungsarbeit, etc. Hier entstehen ja neu Stellen.

Sigg: Die Pflegeberufe wachsen tatsächlich. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit in der Schweiz nicht noch stärker angestiegen. Aber heute werden 50 Prozent der geleisteten Arbeitsstunden nicht bezahlt. Mit einem BGE für alle würde diese unsichtbare Arbeit im Haushalt, in der Betreuung oder bei der Nachbarschaftshilfe endlich wertgeschätzt werden.

STANDARD: Warum sollte jemand noch arbeiten gehen, wenn alle ein Grundeinkommen haben?

Sigg: Wenn schon für das Grundeinkommen gesorgt ist, dann erweitert sich der Horizont des menschlichen Tuns! Man kann sich eine Ausbildung leisten oder eine kreative Tätigkeit, für die bisher keine Zeit blieb. In der fleißigen Schweiz wäre deshalb sicher keine Faulheits-Epidemie ausgebrochen.

STANDARD: Aber irgendjemand muss bei diesem Modell ja trotzdem die unbeliebten Arbeiten machen wie Straßenreinigung, Müllentsorgung, Regale einräumen im Supermarkt.

Sigg: Der Arbeitssuchende ist hierbei nicht mehr darauf angewiesen, jedes Lohnangebot anzunehmen, das man ihm gnädigerweise anbietet. Also muss man mehr dafür bezahlen, wenn der Müll entsorgt und die Toiletten geputzt werden sollen. Andererseits würden die unverhältnismäßigen Spitzenlöhne sinken. Mit einem BGE für alle werden die Einkommen in der Gesellschaft gerechter umverteilt.

STANDARD: Wie hätten 2500 Franken (2.260 Euro) monatlich für jeden finanziert werden können?

Sigg: Es gibt die Idee einer Mikrosteuer auf den Zahlungsverkehr. Der umfasst in der Schweiz jedes Jahr weit über 100.000 Milliarden Franken. Wenn man davon nur ein Promille nimmt, dann hat man schon mehr als 100 Milliarden Franken. Eine solche Mikrosteuer könnte das heutige bürokratische, komplizierte und ungerechte Steuersystem ersetzen. Wir planen, im nächsten Jahr eine entsprechende Initiative zu lancieren.

STANDARD: Nach dem Nein planen Sie also schon die nächste Volksinitiative?

Sigg: Ja, ich bin Rentner, ich habe mein Grundeinkommen und Zeit, auf solche Ideen zu kommen. (Klaus Bonanomi, 6.6.2016)