"Wir dürfen nicht einäugig sein – es gibt auch linke Extremisten, die weniger Europa wollen", sagt der ehemalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel.

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Wien – Mit etwas Distanz betrachtet, kann man ein seltsames Bild beobachten – und Hans Winkler, Direktor der Diplomatischen Akademie, zeichnet es mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit: Je weiter man von Europa, von der EU weggeht, desto mehr erscheint sie den Menschen als attraktiv, desto mehr wollen sie hinein. Oder so sein, wie viele in Europa eben nicht sein wollen. Denn innerhalb der EU nehmen rechte Parteien zu, die weniger und nicht mehr Europa haben wollen.

Auch linke Extremisten

In der Diskussion zum "State of the Union" am Montagabend in der Diplomatischen Akademie hat Wolfgang Schüssel, ehemals als Regierungschef auch Chef des Staatssekretärs Winkler, dennoch etwas an dem Bild auszusetzen und vervollständigt: "Wir dürfen nicht einäugig sein – es gibt auch linke Extremisten, die weniger Europa wollen."

Schüssel, Winkler, der ehemalige EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und die Britin Elizabeth Symons, Baroness Symons of Vernham Dean (die Gewerkschafterin war unter Labour Staatssekretärin), sind sich in ihrer Zustimmung zur EU einig.

Volksabstimmungen als innenpolitisches Spiel

Und weitgehend einig sind sie auch in der Ablehnung der direkten Demokratie. Schüssel sagt es am deutlichsten: Viele politische Führer riefen nach Referenden, wenn sie selber nicht mehr weiterwüssten, ein "domestic game, a domestic gamble" – bei dem es vor allem um die Innenpolitik des jeweiligen Landes gehe. "Die Menschen stimmen aber nicht über das jeweilige Thema ab, sondern für oder gegen eine Regierung", analysiert der ehemalige ÖVP-Politiker.

Mit der britischen Abstimmung über einen EU-Austritt könnten EU-Kritiker in anderen Ländern angeregt werden, ebenfalls solche Abstimmungen anzusetzen – im Extremfall würde die EU zerbrechen, "ist es das, was wir wollen?" Nein, lautet nicht nur Schüssels Antwort.

Nicht gerade Enthusiasmus

Man müsse ja nicht unbedingt Enthusiasmus für die EU aufbringen, ergänzt Van Rompuy (und die britische Oberhauspolitikerin, der etwa eine EU-Armee zu weit ginge, nickt zustimmend), aber die EU müsse Lösungen für die Probleme der Menschen anbieten. Und man müsse klar sagen, dass tatsächlich Lösungen gefunden wurden. 2012 noch war die internationale Presse der Meinung, dass die Eurozone am Ende sei, die Frage sei damals nur gewesen, ob vor oder nach Weihnachten. Nun: Der Euro wurde gerettet, die Wirtschaftskrise weitgehend überwunden, 5,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Die EU müsse nur glaubwürdig Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Terrorismus bekämpfen, um glaubwürdig zu sein und zu bleiben, meint Van Rompuy.

Eine Sache der Hoffnung, nicht der Furcht

Auch Schüssel sieht die Realität weit positiver, als sie meist wahrgenommen wird – und plädiert ebenfalls für einen optimistischen Politikauftritt: "Europa ist eine Sache der Hoffnung, nicht der Furcht. In entscheidenden Bereichen brauchen wir mehr Europa, nicht weniger." Und wer würde schließlich über einen Brexit jubeln? Marine Le Pen und Heinz-Christian Strache, Donald Trump und wahrscheinlich viele Anwälte. Denn im Fall eines EU-Austritts wären 80.000 Seiten in Großbritannien geltendes EU-Recht mit den europäischen Partnern neu zu verhandeln. (Conrad Seidl, 7.6.2016)