Im Gespräch unterstreicht Paul Verhoeven seine Aussagen wie Anweisungen beim Drehen – auch wenn er einräumt, dass er auf bestimmte Fragestellungen seines Werks keine Antwort weiß.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Moral spielt in Ihren Filmen eine große Rolle, und zwar in dem Sinn, dass Sie gegen bestimmte vorgefasste Konzepte von Gut und Böse antreten. Im Ausmalen moralischer Ambivalenzen sind Sie für mich einer der wagemutigsten Regisseure. Haben Sie eine Idee, woher das kommt?

Verhoeven: Manche Dinge weiß man über sich, manche nicht. Das ist vielleicht auch besser so. Wenn man Menschen studiert, entdeckt man, dass viel über Moral gesprochen wird, diese dann aber oft nicht sehr ausgeprägt ist. Ich war schon immer verblüfft über den Unterschied zwischen dem, was Menschen sagen, und dem, was sie tun. Menschen sind oft sehr amoralisch, wir agieren wie Tiere, die überleben wollen, die nach Überlegenheit, nach Macht gieren. Mein Interesse, diese Seiten zu behandeln, kommt wohl daher, dass ich wünschte, die Menschen wären anders. Ich bin nicht schockiert darüber, wozu Menschen in der Lage sind, aber es fasziniert mich. Wie dubios, wie ignorant, wie uneindeutig sie sein können.

STANDARD: Das heißt, Sie suchen nach Charakteren, an denen sich diese Ambivalenz darstellen lässt?

Verhoeven: Nun, es geht mir nicht um Figuren, die man nicht ausstehen kann. In "Der Soldat von Oranien" gibt es eine sehr wichtige, einfache Szene. Es ist der Zweite Weltkrieg, einer der Studenten aus einer Freundesgruppe entscheidet sich dazu, auf der Seite der Deutschen zu kämpfen. Der andere ist im Widerstand, und als sich die beiden auf der Straße zufällig begegnen, kommt es zu diesem Moment, bei dem sie voreinander salutieren. Dieser Gruß ist eine moralische Tat, etwas, wozu wir meistens nicht in der Lage sind. Natürlich ist es falsch, auf der Seite der Deutschen zu kämpfen, aber es gibt noch etwas darüber, und das ist Freundschaft, die diesen Mangel an Moral kurz aufhebt. Das findet man auch in meinem neuen Film "Elle", wenn das Opfer einer Vergewaltigung eine Affäre mit dem Täter eingeht. Das ist eine offensichtlich amoralische Aktion, aber es gibt noch etwas anderes dahinter oder darüber, wo Moral keine Rolle spielt.

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STANDARD: Isabelle Huppert spielt dieses Opfer in "Elle", und sie agiert völlig unerwartet. Sie bleibt scheinbar unbeeindruckt und behält auf diese Weise die Kontrolle.

Verhoeven: Das ist der Grund, warum ich den Film in den USA nicht realisieren konnte. Ich habe mit einem US-Drehbuchautor gearbeitet und versucht, eine Schauspielerin zu finden, aber niemand wollte die Rolle spielen. Im Nachhinein kam ich zu dem Schluss, dass wir durch einen Gnadenakt gerettet wurden. Die klassische Geschichte wäre gewesen, die Frau wird vergewaltigt, sie weiß nicht, wer der Täter ist, weil er maskiert ist. Und wenn sie es herausfindet, rächt sie sich. Das ist hier nicht der Fall.

STANDARD: Und das ist so unerhört daran ...

Verhoeven: Es ist doch fade, wenn man alles voraussehen kann. Selbst in "The Revenant" ist das der Fall. Klar geht es auch um den Kampf mit der Natur, aber in der letzten halben Stunde weiß man, was passieren wird. Ich muss immer etwas finden, das mich anzieht, sonst bin ich schnell gelangweilt. Deswegen habe ich auch nie ein Sequel gemacht. Bei "Elle" gibt es keine Regeln. Ich fand sie erst heraus, als ich den Film machte. Als Künstler ist es besser, ein Unwissender zu sein. Man lässt die Dinge laufen, nutzt Elemente, die im Verborgenen liegen.

STANDARD: War das auch bei Ihren US-Filmen von Anfang an so, oder mussten Sie da die Form erst gegen sich selbst kehren?

Verhoeven: Es ist sicher stärker in Filmen wie "Black Book" oder "Elle" als in "Total Recall". Da ist die Situation eindeutiger. Und dann auch wieder nicht, weil der Held ja Böses tut, dann aber herausfindet, dass er dazu programmiert wurde. Und dann wird es noch viel komplizierter. Er ist auf der Seite der Bösen, entscheidet sich aber diesmal anders – eine interessante moralische Entscheidung.

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STANDARD: Der Zweite Weltkrieg hat in Ihrem Werk eine besondere Position. Sie planen nun auch einen Film über die Résistance.

Verhoeven: Das versuche ich gerade zu finanzieren. Das Interesse hat wohl mit den Eindrücken zu tun, die ich als Kind erlebt habe. Als Sechs-, Siebenjähriger waren mir die Gefahren des Krieges nicht so bewusst. Ich lebte in Den Haag, wo zu dieser Zeit das Zentrum der Verwaltung lag, die kollaborierte. Es wäre mein dritter Film zum Thema. Der Akzent läge auf den Kämpfen der Gruppierungen innerhalb der Résistance im Jahr 1937, sie haben sich beinahe gegenseitig umgebracht. Auch hier findet man so viel Animositäten auf der Seite der Guten. Mir geht es immer um diesen Widerspruch: Die Guten sind nicht vollkommen gut, die Bösen nie ganz so böse. Menschen sind nicht eindeutig das eine oder das andere.

STANDARD: Nach Amerika sind Sie 1985 gegangen, weil Sie das Fördersystem fallenließ. War Ihnen der ökonomische Druck des US-Filmgeschäfts vergleichsweise egal?

Verhoeven: Zu diesem Zeitpunkt tendierte das Fördersystem in den Niederlanden auf absurde Weise nach links. Filme, die erfolgreich wie meine waren, galten als verdächtig. Das konnte nicht Teil der Kultur sein! Das ist ziemlich europäisch. Diese Einstellung war schwer zu verdauen. Es wurde zur existenziellen Frage. Nach "Hollow Man" hatte ich in den USA wiederum das Gefühl, dass ich mich selbst verloren hatte. Ich war bei der Umsetzung zu ängstlich gewesen, konnte mich mit meinen Ideen nicht mehr durchsetzen. Deshalb beschloss ich, zurück nach Europa zu gehen. Wie bei Buñuel, der einmal zu seinem mexikanischen Produzenten gesagt hatte: Ein Film für dich, einer für mich.

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STANDARD: Wenn man einen frühen anarchischen Liebesfilm wie "Türkische Früchte" nun wiedersieht, ist man verblüfft, wie sehr Sie damals schon ganz bei sich waren. Ist der Film für Sie stark in der Zeit verwurzelt?

Verhoeven: Der Film war auf jeden Fall von der sexuellen Befreiung der 1960er-Jahre beeinflusst. Damals hatte jeder Affären, ja musste sie haben. Zumindest in den Zirkeln, in denen ich mich bewegt habe. Diese Akzeptanz ist verlorengegangen, Holland ist viel konservativer geworden. Heute heiraten junge Leute wieder, damals schmiss man solche Ideen aus dem Fenster. Doch alles kommt wieder zurück! Auch in der Politik, rechtsradikale Ideen sind überall auf dem Vormarsch. Man erinnert sich nicht mehr, was dies für Folgen hatte – die Jüngeren schon gar nicht. Aber denken Sie an den Ersten Weltkrieg, an all diese Burschen, die in den Tod aufbrachen und dabei vergnügt gesungen haben. Man will rufen: "Seid ihr verrückt?!" Diese fatale Begeisterung für die Zerstörung wollte ich in "Starship Troopers" zeigen: "Wollt ihr wirklich sterben? Seid ihr wirklich alle so durchgeknallt?" (Dominik Kamalzadeh, 9.6.2016)