Die Nevski Kathedrale ist ein Wahrzeichen der Bulgarischen Hauptstadt Sofia. "Der unsichtbare Armutsstaat ist über den ganzen Kontinent verstreut", sagt Georgi Gospodinow.

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Georgi Gospodinow (48) promovierte über das Verhältnis von Poesie und Medien. Er arbeitet auch als Bühnen- und Drehbuchautor. 2014 erschien der Roman "Physik der Schwermut", 2016 "8 Minuten und 19 Sekunden" (Droschl).

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Das hört man von allen Seiten: Europa ist nicht mehr das Alte, und die EU hat keine Zukunft. Es ist, als ob die Zukunft auf anderen Kontinenten und anderswo auf der Welt wie Erdöl aus dem Boden quillt. Doch in Europa sind die Zukunftsvorkommen – ohne dass es jemand bemerkt hätte -, erschöpft. Vor nur etwa 20 oder 30 Jahren war die nähere Vergangenheit voller Zukunft, und ihre Ressourcen waren noch unbegrenzt. Ich kann mich mit meinem bulgarischen Gedächtnis selbst an diese Zeit erinnern. Der Wechsel des politischen Systems geschah direkt vor unseren Augen, die goldenen Erzadern der Demokratie zeichneten das Bild eines neuen wunderschönen Lebens mit offenen Grenzen, neuen Regeln, mit Demokratie ...

Nun aber stehen wir am Eingang einer Sackgasse, und die ist leer, nicht verlockend und ihres Horizonts zum großen Teil beraubt. Wir erwarten nichts besonders Gutes in den nächsten fünf, zehn oder 15 Jahren. Im Gegenteil: Es lauern Krisen. Flüchtlings-, Religions-, Wirtschafts-, Umwelt-, ethnische Krisen ... Unlängst hat meine Tochter (sie ist acht Jahre alt) im Spiel ihre Plüschtiere gefragt: "Wie geht es euch heute, liebe Kinder?" Dann stellte sie sich hinter sie und antwortete für sie: "Besser als morgen." Das ist auch unsere heutige Lage – besser als jene von morgen. Und keiner mehr denkt an die Zukunft mit dem Enthusiasmus von früher. Können wir aber sagen: Future canceled?

Es lauern Krisen

Die Zukunft Europas ist weder eine wirtschaftliche Formel noch nur eine politische Vereinbarung. Der Sinnesverlust, das akute Zukunftsdefizit, Europas Melancholie, die Flut von Immigrationselend oder der wiedererwachende Nationalismus – all das sind Herausforderungen, die nach einer Veränderung alter geistiger Einstellungen verlangen. Sie verlangen nicht nur einfach nach neuer Vernunft, sondern nach einem neuen sozial sensiblen Herz. Es sind eine andere Expertise und Bildung nötig. Und an dieser Stelle, wie immer, wenn die Lage hoffnungslos erscheint, kann man sagen: Hherein mit der Literatur.

Europas Krisen sind auch Krisen der Sprache und der Erzählung über sie. Sie sind nicht nur wirtschaftlicher oder politischer Natur, oder können nicht nur durch solche Terminologie erklärt werden. Sie sind auch irrational, persönlich, Krisen des Sinns. Wir haben aber auch große Experten in dieser Angelegenheit – Montaigne, Camus, Kafka, Tschechow, Thomas Mann, Virginia Woolf ... Ich bitte die Europa-Experten und die Politiker, diese Autoren erneut zu lesen. Wenn wir über den heutigen unruhigen Menschen sprechen und über die Lage hier und jetzt, dürfen wir nicht die Literatur und die Kultur unterschätzen. Das sind die langfristigen Aktiva und Guthaben Europas. Wenn wir heute ein erhebliches Empathiedefizit verspüren, ist das besonders wichtig – auch politisch.

Gibt es einen europäischen Wert, der durch die Kultur geschaffen wurde und den ich für nichts auf der Welt tauschen würde, so ist das das Mitgefühl und auch die Gnade für die Schwächeren, die Leidenden und diejenigen, die alle Hoffnung verloren haben. Was Europa jetzt am meisten braucht, ist Empathie. Es soll Empathie für die anderen, die Verschiedenartigen wecken, deren Geschichten hören, die eigene erzählen und ein gemeinsames Weiterleben ermöglichen. Es ist schwieriger, diejenigen zu verletzen oder zu töten, die über sich erzählt haben und über ihre Kinder und ihre Mütter – weil ein Mensch zum Menschen wird, wenn er eine Geschichte hat. Das ist die wahre Metamorphose – das Wunder der Literatur und der Empathie. Nur dieses Europa der Empathie hat eine Zukunft.

Über 84 Millionen europäische Bürger leben unter der Armutsgrenze. Der unsichtbare Armutsstaat ist über den ganzen Kontinent verstreut, und wir passieren ihn manchmal, wenn wir in die Arbeit oder mit dem Hund auf die Straße gehen. Um diese Zeit machen seine traurigsten Bürger ihre Betten aus Pappkarton auf den Bänken. Dieser Staat ist bereits größer als Großbritannien oder Deutschland und wird mit den Flüchtlingen wachsen. Seine neuen Wohnbezirke sind überall – in München, London oder Paris. Das – und wir sollen es klar und deutlich sagen – ist kein fremder Staat. Oft wohnen auch unsere Eltern da. Und dabei geht es nicht nur darum, Geld zu investieren, sondern auch viel schwierigere Investitionen zu tätigen – der Aufmerksamkeit und des Mitgefühls. In gewisser Weise ist auch dieser Staat im Begriff, Europa und die EU zu verlassen.

"Meine Damen und Herren, England ist eine Insel." Das ist der berühmte Satz, mit dem der französische Historiker Jules Michelet seine Vorlesungen zu beginnen pflegte. Im Laufe der Zeit haben seine Studenten verstanden, dass es dabei um mehr als das Offensichtliche geht und dass diese Definition über die Grenzen der Geografie hinausgeht. Heute, im Jahr 2016, können wir aber mit derselben Überzeugung etwas anderes behaupten: Meine Damen und Herren, Großbritannien ist eine Halbinsel! Es ist eine Halbinsel, die Teil der Halbinsel Europa ist. In der heutigen Welt ist die Existenz von Inseln unmöglich geworden. Wenige Tage vor dem Referendum darüber, ob das Land in der EU bleibt, möchte ich auch die berühmten Worte eines großen englischen Poeten aus dem 17. Jahrhundert in Erinnerung rufen. Auf sie sollen diejenigen hören, die dafür sind, dass Großbritannien die Halbinsel verlässt.

No man is an island,

Entire of itself,

Every man is a piece of the continent,

A part of the main.

If a clod be washed away by the sea,

Europe is the less.

As well as if a promontory were.

As well as if a manor of thy friend's

Or of thine own were:

Any man's death diminishes me,

Because I am involved in mankind,

And therefore never send to know for whom the bell tolls;

It tolls for thee.

(John Donne, 1624, Devotions upon emergent occasions, Meditation 17)

Meine Damen und Herren, liebe Brexiters, das ist die heutige Nachricht, obwohl sie aus dem 17. Jahrhundert stammt. Ein Mensch ist keine Insel. Großbritannien ist keine Insel. In der heutigen Welt ist nichts mehr eine Insel. Das ist die Stunde, die heute schlägt. (Georgi Gospodinow, Album 18.6.2016)