Wien – Jeder Satz ein kleines Grundsatzmanifest; ein mäandernder Lehrausgang in die aus Kürzeln, Formen, Schlagworten, Farben, Fotos, Videos, Objekten, Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Konzepten und Projekten bestehende Kunstwelt von Matta Wagnest. Mit weit hausholenden Gesten erklärt sie, worum es geht, im Leben, in der Kunst – und in der (Welt-)Politik. Zum Beispiel um "das Gemeinsame im Verschiedenen", wie bei Skulptur Europa, ihrem derzeitigen Herzensprojekt.

Zunächst in den Städten der EU-Mitgliedstaaten, später am liebsten rund um die Welt, möchte sie ihre begehbaren, labyrinthischen Objekte implantieren: als "Verortung eines Diskurses, der letztlich nur global zu führen ist." Gläsern, natürlich, Transparenz sollte wichtigstes Kriterium bei politischen Entscheidungsfindungen sein. Und labyrinthisch, ja, weil man "im Unterschied zu einem Irrgarten im Labyrinth letztendlich immer zur Mitte kommt."

"Ford Crystal Blue" aus dem Jahr 2001 bildet ein erweiterbares Modulsystem aus blauem Float-Glas – Matta Wagnests Werk steht in Wattens in den Swarovski-Kristallwelten. Gefordert sind die Betrachter als Akteure. Am liebsten würde Wagnest ihre Objekte rund um die ganze Welt implantieren.
Foto: Anatol Jasiotyn

Gemeinsam mit lokalen Politikern möchte sie die unterschiedlichen Farbtönungen und Grundrisse dieser architektonisch anmutenden Glaskonstrukte verhandeln, "weil das Lokalkolorit wichtig ist und die Grundrisse der Staaten unterschiedlich sind. Das Individuelle, das Lokale ist bedeutsam – in einem großen Rahmen. Alles ist eingebunden in ein größeres Ganzes. Auch der Planet Erde ist nur fuziklein im gesamten Universum." Matta Wagnest ist, "natürlich!", spirituell: "Ohne Spirit kann man nicht denken, nicht leben. Auch Agnostiker und Atheisten werden den Spirit vermutlich nicht negieren." Liebe, sagt sie dann auch noch, sei ein wesentliches Thema ihrer Arbeit: "Liebe im Sinn des Potenzials: Der Liebende muss großzügig sein."

Eines ihrer Bilder heißt Analyse, denn "ohne Analyse geht es nicht. Sie muss natürlich dem standhalten, was sinnvoll und notwendig ist – im Sinne von Not wendend." Skulptur Europa ist die logische Fortsetzung ihrer Transcendant Spaces, mit denen sie sich seit den 1990er-Jahren beschäftigt: konzeptuelle Versuche über die Wahrnehmung; über das Innen und Außen; über das Sichtbare und Unsichtbare; über die Auflösung von Raum und Zeit; und darüber, dass Betrachtende immer auch Akteure sind, Mitwirkende in einer ausgeklügelten Kunstinszenierung.

Transparenz

Ford Crystal Blue aus dem Jahr 2001 etwa – ein erweiterbares Modulsystem aus blauem Float-Glas – steht in Wattens in den Swarovski-Kristallwelten, im Hintergrund erhebt sich monumental die Nordkette. Eines ihrer ersten Gebäude installierte sie 1993 im 20er-Haus: Deconstruction: Blue Box, ein artifizieller Raum, der sich selbst genügte – ebenso wie das orangefarbene Glashäuschen, das sie sechs Jahre später für den Steirischen Herbst entwarf und das in seiner Einfachheit an Kinderzeichnungen erinnert.

Auf dem Kunstmarkt ist Wagnest, Jahrgang 1964 und aufgewachsen in St. Martin am Wöllmissberg, einem 800-Seelenkaff in der Steiermark, eine Außenseiterin. Jetzt. In den 1990er-Jahren gehörte die Peter-Weibel-Schülerin zu den jungen Stars der Szene, mit Istanbul-Biennale-Teilnahmen und Ausstellungen in Tokio und New York, Österreich sowieso.

Bis 1996, als sie sich abrupt in die innere Emigration begab. Ein Berlin-Stipendium und eine Ausstellung im Hauptraum der Secession ablehnte. Derart gnadenlose Konsequenz verzeiht der Markt kaum. Nach drei Jahren meldete sie sich mit einer Porträtserie zurück, deren Vorbild Übermalungen von Arnulf Rainer sein könnten. "Es ist", sagt sie und schließt die Augen, "die Aufarbeitung eines Übergriffs. Es geht um das Ertragen von Grausamkeiten. Und darum, ihnen nicht zu erliegen. Demut zu entwickeln, dass man durchs Nadelöhr gehen kann."

Atemhauch

Über das immer gleiche Porträtfoto schmierte und schlierte, klatschte und strich sie Farbe, Rot, Orange, Lila, Schwarz. Dicht und dichter wurden die Farbbalken, bis zuletzt abstrakte Malerei übrig blieb. Matta Wagnest, Mutter von vier Buben zwischen acht und fünfzehn Jahren, hatte sich wieder gefunden.

Schöpfungszyklus nennt sie denn auch selbstbewusst ihre Bilderserie Soplo, was auf Portugiesisch so viel wie Atemhauch bedeutet. Sparsame, hochpoetische Farbgesten in liturgischem Schwarz und Lila "zur Verortung von Raum und Zeit. Die zwei Farben haben mich gesucht", sagt sie und lacht. "Heimo Zobernig hat einmal gesagt, das Bild müsse vorher im Kopf entstehen. Bei mir ist das nicht so. Bei mir entsteht es im Tun. Kunst ist eine Art von Introspektion: Das, was nicht wahrgenommen wird, nimmt der Künstler wahr. Das sollte viel größeren Einfluss auf unser tägliches Leben haben."

Virtualität

Unter dem Titel Schattengeist wird sie beim Steirischen Herbstes in der Grazer Minoritenkirche eine Auswahl ihrer goldfarbenen Schrift-Bilder zeigen, denn "Gold ist das Branding dieser Welt!" In die goldglänzenden, abgewrackten Schiffsrümpfe hat sie Worte wie "cool" gepinselt, "weil es eine coole Sache wäre, wenn wir alles ganz anders machen könnten. Es geht um einen Paradigmenwechsel. Die Boote sind durch die Flüchtlingsproblematik in den Fokus geraten. Aber mich beschäftigt auch der Kolonialismus vor fünfhundert Jahren und was wir Europäer damals schon alles falsch gemacht haben."

Cool, sagt sie zum Abschied, wäre klarerweise auch, wenn sie Skulptur Europa endlich realisieren könnte: real – und virtuell im globalen Dorf. Zwecks dringend anzustoßendem Diskurs über Transparenz, über gläserne Menschen und ebensolche Decken, über Lokalkolorit und universelle Liebe. (Andrea Schurian, 19.6.2016)