Keine prunkvollen Sehenswürdigkeiten, sondern urbane Fußballkäfige stehen im Mittelpunkt der Arbeit "Kicking the Horizon", Michael Goldgrubers Beitrag zur Länderschau im Rahmen der Fußball-EM vor dem Pariser Rathaus.

Foto: Michael Goldgruber

Die EM-Teilnehmerländer sollten, abseits des Fußballfeldes, ihre Kultur präsentieren. Das war die Idee, die die Stadt Paris mit dem Projekt "Berges de l'Europe" verfolgte. Entsprechend dem doppelbödigen Titel – "berges" meint "Uferböschungen" – sollten Pavillons entlang der Seine zum Promenieren einladen. Aus der Eröffnung am 10. Juni wurde dann aber nichts, weil der Fluss über die Ufer getreten war.

Aber wo ein Wille ist, ist oft auch ein Weg. Und so wurde die "Kulturmeile" in ein Containerdorf vor dem Rathaus verwandelt. Was seit Samstag an diesem, kurzfristig "Place de l'Europe" genannten Ort zu sehen ist, zeigt einmal mehr, dass Kultur ein äußerst dehn- und belastbarer Begriff ist.

Nicht wenige Länder übertrugen die Repräsentation nämlich ihren Tourismusbüros: Sonnenuntergänge, küssende Paare vor malerischen Landschaften usw. sind da zu sehen. Ein isländisches Hüttchen kann man betreten. Dass man Kultur auch mit Kunst zusammendenken könnte, erahnt man etwa bei den Ungarn: Sie verleihen dem Nationalstolz Ausdruck, indem sie Stars aus bildender Kunst und Architektur vorstellen. Lieber verweilt man dann aber doch bei der Slowakei, die Arbeiten junger Künstler zeigt.

Schubert statt Schnitzel

So, und irgendwann kommt man dann aus jener Kühlkammer, in der Schweden eine Eisskulptur zeigt, lässt sich eine leicht obszöne belgische Süßigkeit zum Auszuzeln in die Hand drücken – und nähert sich dem österreichischen Containerpavillon. Und befindet, es sei doch ein gutes Zeichen, dass es nicht nach Schnitzel riecht.

Aus dem Inneren dringen die wohligen Klänge eines Schubertliedes. Der ungebrochen legere Genuss von Kulturexporten, an den man sich gerade eben gewöhnt hatte, ist aber verunmöglicht: Ein zweiter, beunruhigender, ja aggressiver Sound liegt in der Luft, jener von heftig schepperndem Metall. Die Außenwände des Containers tragen Fotoporträts von Nichteuropäern respektive Noch-nicht-Europäern.

Und dann erweist sich, was man nach dem bisherigen Flanieren schwer für möglich gehalten hätte: Österreich ist inmitten der eh total netten Länderspiele mit einem ausgewachsenen, obendrein sozialkritischen Kunstprojekt vertreten. Keine Mozartkugeln, keine Sisi – sondern eine die Flüchtlingsfrage thematisierende Installation.

Scheppernde Gitterstäbe

Kicking the Horizon heißt das engagierte Projekt von Michael Goldgruber (geb. 1965). Nach Paris kam es auf Betreiben des Österreichischen Kulturforums, dessen Leiter Mario Vielgrader selbst nur ahnen konnte, welch Fremdkörper der Österreichbeitrag zum "Place de l'Europe" werden sollte.

Was hier in das Schubertlied hineintschinnert, sind die Gitterstäbe urbaner Fußballkäfige. Junge Flüchtlinge aus Afghanistan oder Syrien schießen in Goldgrubers Video den Fußball immer wieder dagegen. Den Käfig nutzt er dabei als Metapher für soziale Ausgegrenztheit – ein kluges, weil kulturübergreifendes Bild. Zwei weitere Monitore zeigen die Gesichter teils unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Porträts, bei denen Goldgruber die Ästhetik "richtiger" Fußballerabbildungen zitierte. Eine "episch-starke Präsenz" wollte er ihnen geben, sie aber auch in ihrer "Verletzlichkeit" zeigen.

Österreichs eindrucksvollster EM-Beitrag

Die abseits von Schubert ohne Romantik und Kunstdünkel auskommende, sehr unmittelbare Installation könnte der eindrucksvollste Beitrag Österreichs zum EM-Zirkus bleiben. Noch sympathischer erscheint Kicking the Horizon, wenn man weiß, dass sich Goldgrubers Arbeitsprozess zu einer Art Sozialprojekt entwickelte.

Gecastet hat er im Wiener Haus Liebhartstal, wo man sich erst zusammenraufen musste. Doch schließlich entwickelten sich Freundschaften, man lernte einander verstehen. Dabei ist ihm, sagt Goldgruber, sogar "ein bissl was gelungen": etwa dass junge Männer es plötzlich nicht mehr schlimm fanden, wenn Frauen zum Dreh mitkamen. (Roman Gerold aus Paris, 21.6.2016)