Er hätte es leichter haben können. Als Absolvent einer renommierten US-Hotelfachschule leitete der Amerikaner Karl von Ramm ein 580-Betten-Haus. Aber dann holte ihn die Geschichte ein – in dem Fall jene der eigenen Familie. Und plötzlich fand er sich als Besitzer eines Herrenhauses mitten im ländlichen Estland wieder: "Wenn ich richtig zurückrechne, bin ich die zwölfte Generation." Und da lebt der junge Mann aus Durham, North Carolina, jetzt seit fünf Jahren in Harjumaa und leitet das Hotel Padise Mõis ("Herrenhaus") mit seinen überschaubareren 15 Zimmern.

Bis vor ein paar Jahren wusste Karl von Ramm nicht viel mehr, als dass die Familie aus Estland kam: "Unsere Großeltern sprachen nie über ihr Leben in Estland, nie über den Krieg, denn sie hatten alles verloren." Bereits 1919, nachdem Estland erstmals die Unabhängigkeit erlangt hatte, war die baltendeutsche Adelsfamilie enteignet worden. 1939 dann, als abzusehen war, dass die baltischen Länder unter sowjetischen Einfluss geraten würden, siedelte sie nach Polen um, floh 1944 nach Deutschland und wanderte in den 1950ern in die Vereinigten Staaten aus.

Parnu
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Karl von Ramms Vater, ein in Polen geborener Amerikaner, rekonstruierte die Ursprünge der Familie: Seit dem 13. Jahrhundert waren die von Ramms im Baltikum, zunächst in Lettland, ansässig gewesen. Im Jahr 1622 öffnete einer der Vorfahren, der Burggraf von Riga, den belagernden Schweden die Stadttore. Deren König Gustav II. Adolf revanchierte sich, indem er ihn in den Adelsstand erhob und das Herrenhaus in Harjumaa zum Geschenk machte. Die Familie von Ramm wusste dieses Startkapital auf estnischem Boden zu nützen: In ihrer besten Zeit besaß sie zehn Herrenhäuser und etwa ein Sechzehntel des estnischen Territoriums. Der baltendeutsche Adel bildete, zusammen mit der Kaufmannschaft, jahrhundertelang die herrschende Klasse des Landes. "Eine untergegangene Welt!", seufzt Karl von Ramm.

"Mein Vater fuhr einmal aus Neugier nach Estland," sagt Karl von Ramm. "Er sah das heruntergekommene Gut, das jahrzehntelang als Dorfschule gedient hatte, und kaufte es 1997 vom Staat zurück. Der Kaufpreis war nicht so schlimm, aber die Sanierung – ein Millionen-Projekt." Als sich die Frage stellte, wer Padise Mõis leiten sollte, zeigte Karl von Ramm, der gelernte Hotelkaufmann, auf.

Mitten in Estland

Das Haus kann gut als Ausgangspunkt zur Erkundung von Estland dienen – das Land ist nur halb so groß wie Österreich. Man macht also Ausflüge nach Tallinn, in die alte Universitätsstadt Tartu oder nach Pärnu, Estlands "Sommerhauptstadt", geht wandern oder radfahren. Padise liegt auf einer Nebenstraße zwischen Tallinn und Haapsalu, die zugleich eine der wichtigsten Fahrradrouten durch das Baltikum ist.

Haapsalu
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Eine Strecke, die man, wie man als Mitteleuropäer ungläubig bemerkt, großteils alleine bestreitet. Wenn einem wirklich einmal etwas entgegenkommt, ist das auffallend oft ein Polski Fiat, ein kastenartiger automobiler Gruß aus den frühen 1970ern. Es kann aber auch ein Elch sein. "Seien Sie vorsichtig, ich begegne jeden Tag einem auf der Straße", sagt Karl von Ramm zum Abschied.

Die Straße führt zum Kurort Haapsalu. Dorthin kommt man wegen der Schlammbehandlungen, die gegen Rheuma helfen sollen. "Der deutsche Arzt Carl Abraham Hunnius hat den Ort begründet, nachdem er die heilsame Wirkung von Schlamm erkannt hatte", erklärt Maria Strauss, die hier Besucher herumführt.

Sinnieren und komponieren

Haapsalu wurde rasch zum beliebten Urlaubsort russischer besserer Kreise, die Kurpromenade, Pavillons und ein Kursaal – heute ein hübsches, gutes Restaurant – sind entstanden. Auch Zar Nikolaus II. und Tschaikowski hielten sich hier auf. An jener Stelle, an der der Komponist aufs Meer schaute und sinnierte, steht heute eine steinerne Bank. Auf Knopfdruck werden Hörbeispiele von Stücken aktiviert, die er in Haapsalu geschrieben haben soll.

Tallinn
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Fixpunkt ist die Bischofsburg aus dem 13. Jahrhundert, die älter ist als die Stadt selbst. Die hiesigen Bischöfe vereinigten die geistliche und die weltliche Macht auf sich, wodurch sie immer wieder in Kriegshandlungen verwickelt waren. Im Zuge einer solchen wurde die Burg im 17. Jahrhundert zerstört und blieb als Ruine zurück. Der Turm steht noch, der Blick aufs Meer und die Stadt ist auch noch da.

Das Burgmuseum gibt einen Überblick über die Geschichte des Bistums. Interessant: ein Stammbaum der Domkapitel. Es sind ausschließlich Namen baltendeutscher Adliger. Keine Esten? "Nein, die Esten, das waren die Bauern", stellt Maria, die selbst Estin ist, trocken fest. Das ist die Kehrseite der baltendeutschen Gloria: Die Leibeigenschaft ist erst 1816 abgeschafft worden, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen Studenten der Universität Tartu, sich auf ihre eigene Kultur, Sprache und Lieder zu besinnen. (Harald Sager, 28.6.2016)