Le Mans / Wien – An dieser Stelle gibt es diesmal eine Geschichte zu erleben, die besonders all jenen gefallen sollte, die der Schadenfreude nicht abgeneigt sind oder die Anteil an jenen nehmen, denen etwas gründlich misslingt. Es ist eine Geschichte über die Unwägbarkeiten der journalistischen Arbeit und das Scheitern gleich auf mehreren Ebenen.

Nach 24 Stunden fährt der Schweizer Neel Jani im Porsche 919 Hybrid mit der Startnummer 2 in Le Mans wohl auch zu seiner eigenen Überraschung als Sieger durchs Ziel.
Foto: AFP

Ein Wochenende in Le Mans: Es war das vergangene, es wurde 24 Stunden lang das legendäre Rennen gefahren. Das klingt nach Vergnügen für den interessierten Motorsportfan, ist es aber nur zum Teil. Da wird ja nicht nur verzückt dem Klang der Motoren gelauscht, Champagner in der Lounge geschlürft oder den Ludern in der Boxenstraße hinterhergespäht, Letzteres schon gar nicht. Da wird hart gearbeitet. Teams werden besucht, Fahrer interviewt, Mechaniker ausgehorcht, da werden die Streckenabschnitte abgegangen und die Kurven inspiziert, Rundenzeiten werden analysiert, und das offizielle Pressezentrum in Le Mans ist alles andere als luxuriös.

Der bescheidene Berichterstatter des STANDARD war in einem Wohnwagen an der Strecke untergebracht, das ist gewiss romantisch, es war die Kurve nach dem Dunlop-Bogen, aber das ist auch wahnsinnig laut, sodass an Schlaf, wenn man diesen denn sucht, kaum zu denken ist. Dann wärmt man sich am Lagerfeuer.

Siegerfoto mit Porsche-Motorsport-Teamchef Andreas Seidl und den Fahrern Marc Lieb, Romain Dumas und Neel Jani.
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Das Rennen selbst war unglaublich spannend, es lieferten sich Porsche und Toyota das große und Ford und Ferrari das kleine Duell. Ständig wechselten die Positionen, gegen 13 Uhr schien dann aber der Kampf um Platz eins entschieden zu sein: Toyota lag solide in Führung, der Porsche war auf Distanz, endlich kämen auch einmal die Japaner, seit Jahren immer wieder als glücklose Herausforderer gescheitert, zu einem Sieg in diesem prestigeträchtigen Rennen.

Der richtige Ton

Der werte Berichterstatter des STANDARD finalisierte seine Geschichten, eine für Print, eine andere für Online. Da muss man ja auch den Ton treffen. Das Rennen würde um 15 Uhr die Zielflagge sehen, und der Berichterstatter müsste pünktlich und ohne Widerrede um 15 Uhr den Zielraum verlassen, da jenseits der Zielgeraden auf dem kleinen Sportflughafen ein Flieger wartete, der einen knapp bemessenen Slot hatte. Würde dieser versäumt, gäbe es angesichts von 250.000 Fans, die nach dem Ziel auseinanderstieben, kein Wegkommen mehr.

Zehn Minuten vor der Zieleinfahrt waren beide Geschichten fertig. Der Tenor im Groben: Toyota bezwingt Porsche. Das schien kein großes Risiko, auch Porsche selbst glaubte mit einer Runde Rückstand nicht mehr an den Sieg, das konnte sich nicht mehr ausgehen. Also sind die Geschichten samt Ergebnis fertig.

Dann passiert das Unfassbare: Der führende Toyota wird langsamer und langsamer. Das Raunen hebt an. Fünf Minuten vor dem Ziel bleibt der Toyota stehen. Der Porsche eilt heran. Die Geschichten für den STANDARD sind bereits weg. Der Laptop schafft es nicht mehr, die Systeme zu öffnen, weder Print, dort heißt das System Milenium, noch Online, das System heißt Godot, was für ein schlechter Witz. Alles steckt, keine Korrekturen mehr möglich, an dieser Stelle einen herzhaften Gruß an die IT-Abteilung des Hauses.

Heißa und Hurra

Der Porsche braust am stehenden Toyota vorbei – und gewinnt. Die Porsche-Leute fallen einander um den Hals, jubeln, rufen Heißa und Hurra, der STANDARD-Redakteur stößt wütende Flüche aus und brüllt seinen Computer an.

Der japanische Teamchef von Toyota ist ein würdevoller älterer Herr, dessen Gesicht in diesem Moment live und in Großaufnahme am Monitor übertragen wird. Er ballt seine Faust und steckt sich diese wie ein kleines Kind in den Mund, beißt darauf, dann schießen ihm die Tränen in die Augen. Der sichere Sieg – in der buchstäblich letzten Minute vom Schicksal (oder von einem technischen Defekt) gestohlen.

Ausfall: Toyota-Fahrer Kazuki Nakajima brauchte Trost.
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Was hätte man da für eine Geschichte erzählen können. Vom schalen Beigeschmack des Triumphes, den Porsche überspielen musste, von der Tragödie des Scheiterns, die Toyota heimgesucht hatte. Stattdessen waren zwei Geschichten nach Wien gelangt, bei denen die Kollegen vor Erscheinen zwar die Titelzeilen geändert und das Ergebnis korrigiert haben, die aber letztlich belanglos waren angesichts dessen, was sich in Le Mans ereignet hatte. Wen interessiert da schon, wie Brad Pitt geschaut und was Jackie Chan gesagt, warum Ines Taittinger an diesem Wochenende keinen Champagner getrunken und was sich auf den hinteren Rängen bei Ford, Ferrari, Corvette und Aston Martin getan hat. Ja, Porsche hat gewonnen und Toyota verloren, aber wie sich das ereignet hatte, das wäre die Geschichte vor einer Woche gewesen. Und ach, wen interessiert das heute noch. (Michael Völker, 24.6.2016)

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