Werner Feiersinger fotografiert italienische Moderne (Brücke von Morandi), ...

Foto: Werner Feiersinger

... Tobias Zielony ein gescheitertes Wohnbauprojekt bei Neapel.

Foto: Tobias Zielony

Thomas Demand: "Brennerautobahn", 1994.

Foto: Thomas Demand

Ingrid Martens, "Africa Shafted", 2012.

Foto: Ingrid Martens

Wien – Remain? Or leave? Ob die Bewohner der Clockwork Orange-Filmkulisse in Thamesmead, jener in den 1960er-Jahren am Südufer der Themse großteils auf ehemaligem Sumpfgebiet errichteten Sozialbauten, wohl für den Brexit gestimmt haben? Wer weiß. Denn die am Reißbrett entworfene Satellitenstadt im Südosten Londons gehört zu zwei Gemeinden: In Greenwich stimmten 55,6 Prozent für den Verbleib in der EU, in Bexley 63 Prozent für den Ausstieg.

1999 stattete Liam Gillick den Betonbauten in Thamesmead einen Besuch ab. Ihn interessierte der Ort, den Stanley Kubricks als dunkle Zukunftsdystopie, als ein anarchistisches und von Angst beherrschtes Viertel inszeniert hatte. Was er fand, war eine eher beschauliche, etwas öde Siedlung an einem künstlichen See. Gillick zeigt sonnige Bilder einer gelebten Vision moderner Städteplanung (Vorzüge des Ländlichen und des Urbanen vereinend), die nicht die Vorurteile der modernen brutalistischen Betonstadt und ihrer sozialen Brennpunkte bestätigen.

Wohnmaschinen der Moderne

Genau um diese funktionalen Wohnmaschinen der Moderne und ihre mit sozialen, gesellschaftspolitischen Utopien gespickten stadtplanerischen Ideale – ja, um den Glauben, mit Architektur Zukunft zu gestalten, geht es in der neuesten Ausstellung der Kunsthalle Wien. Und es geht um ihren zentralen, metaphorisch unendlich stark aufgeladenen Werkstoff, um das Baumaterial schwebender Straßen und futuristischer Gebäudedesigns: um Beton.

Beton, so ist auch die Schau betitelt, die das – seit beinahe zwei Dekaden ungebrochene – Interesse der Gegenwartskunst für die Ideen der Moderne aufgreift. Das ist jetzt zwar kein bahnbrechender kuratorischer Einfall, aber – und das ist gut so – sehr nah dran am "Wohnst du noch oder lebst du schon?".

Neue Wohnghettos

Und auch dicht dran an den drängenden Fragen unserer Zeit: Auch in Europa wachsen die Städte immer rasanter, und Gentrifizierung und Ghettoisierung durften wir inzwischen ebenso kennenlernen. Neue Konzepte sind also gefragt. Aber was lernen wir aus den alten? Welches Potenzial liegt in den Betonideen aus den Aufbruchszeiten der 1960er? Die Urbewohner der visionären Wohnsilos haben diese längst Richtung Eigenheim verlassen, heute leben in den oft architektonisch gewagten Bauten migrantische Communitys, wie Ingrid Martens und Susanne Kriemann in ihren Werken thematisieren.

In der Kunst wird das Grau der Betonvorstädte zwar gerne einmal durch die rosarote, dem Verfall eine Romantik verleihende Brille gesehen. Solche naive Ästhetik lässt Beton aber aus. Vielmehr hat man für die durch slicke Wohnmagazine wabernde, neue Faszination an der runterkühlenden Ästhetik von Beton auch Augenzwinkern übrig: Der Sichtbeton, der die Besucher in der Halle begrüßt, ist nämlich schmeichelweich und warm. Bei solchen "Betontapeten" könne man aus 50 Dekors wählen, so die Kuratoren, Vanessa Joan Müller und Nicolaus Schafhausen, schmunzelnd.

"Add Elegance to your Poverty"

Von Londons lichter Vorstadt bis in das nächtliche, ins Flackerlicht eines Feuerwerks getauchte Vele di Scampia bei Neapel ist es hier auch nicht weit: Im festungsartigen Gebäudekomplex, einem gescheiterten sozialen Wohnbauprojekt, begrüßt man aus dem Gefängnis heimkehrende Bewohner mit pyrotechnischen Freudenfeuern. Der "uneinnehmbaren Burg der Camorra" und den dort lebenden Jugendlichen hat Tobias Zielony ein stimmiges Stop-Motion-Videoporträt gewidmet. Im Kopf schwenkt man zu einer Fotografie Monika Bonvicinis: Auf einer Mauer im städtebaulichen Elend hat jemand die Botschaft Add Elegance to your Poverty hinterlassen. Der enge Fokus von Beton und erfreulich unabgehobene Arbeiten erleichtern das gedankliche Springen zwischen den Werken – eine verlebendigte Form der Kunstbetrachtung wird möglich. Ausgerechnet mit "Beton" gelingt der Kunsthalle Wien einmal Leichtfüßigkeit.

Vielen Künstlern gemein ist das skulpturale Lesen von Architektur: neben Sofie Thorsen oder Isa Melsheimer etwa Werner Feiersinger. Thorsen recherchierte zu den in den 1950er-Jahren von der Stadt Wien bei Künstlern in Auftrag gegebenen Spielgeräten, die ihr oft wie modernistische Plastiken und Architekturen erschienen. Aus Sicherheitsgründen sind diese heute nicht mehr in Verwendung, deswegen verhilft Thorsen ihnen im Rahmen ihrer Installationen wieder zu einer fragilen dreidimensionalen Gestalt. Melsheimer erweist zerstörten brutalistischen Bauten in Birmingham, Oklahoma City oder Baltimore die Ehre, indem sie quasi aus deren "Ruinen" Objekte herauslöst. Und Feiersinger verwandelt schließlich in seinen Fotografien Bauwerke der italienischen Moderne in skulpturale Ikonen. Eine Leidenschaft, mit der er schon zwei Bücher gefüllt hat. (Anne Katrin Feßler, 25.6.2016)