Europa steuert auf einen neuen internen Konflikt zu. Wird die Personenfreizügigkeit in der Union, also das Recht der Bürger, sich in jedem anderen Land einen Job zu suchen, erhalten bleiben? Das ist die politische Frage der Stunde. Dabei ist Vorsicht geboten. Wer die Freizügigkeit einschränken will, muss sich darüber im Klaren sein, dass er damit die EU einer Zerreißprobe aussetzt, die Osten und Westen entzweien könnte.

Ausgangspunkt der aufkommenden Debatte war das britische EU-Referendum. Das Versprechen des Brexit-Lagers lautete, dass die ungezügelte Zuwanderung nach Großbritannien enden wird, sobald das Land die EU verlässt. Nun mehren sich sogar Stimmen, wonach ein britischer EU-Austritt verhindert werden kann, wenn man London nur in dieser Frage entgegenkommt. Vorstöße in dieselbe Richtung gab es schon aus Österreich. Arbeiterkammerdirektor Werner Muhm verlangte eine Abriegelung des heimischen Arbeitsmarkts für EU-Ausländer. Rechtsparteien in Westeuropa erheben ähnliche Forderungen. Die Briten haben Verbündete.

Und gibt es nicht gute Argumente dafür, um aktiv zu werden? In Ostösterreich hat man wirklich das Gefühl, Ungarn seien überall. Die Zahl der ungarischen Arbeitnehmer im Land hat sich seit 2010 fast verdreifacht, obwohl die Arbeitslosigkeit zeitgleich ein Rekordhoch erreichte.

Ins Spiel gebracht werden daher Überlegungen, wonach EU-Länder künftig Schutzklauseln aktivieren könnten, um ihren Arbeitsmarkt auf Zeit abzuriegeln. Doch solche Konzepte sind fatal, weil sie den Grundkonsens aushebeln würden, auf dem die EU aufbaut. Um dieses Argument zu verstehen, muss man die Perspektive von Politikern und Bürgern in Warschau, Budapest und Bratislava einnehmen.

Der europäische Einigungsprozess hat dazu geführt, dass kapitalstarke westliche Unternehmen große Teile der Märkte in Osteuropa erobert haben. Österreichische und italienische Banken sind die dominanten Finanzdienstleister in Tschechien und Rumänien. Deutsche Baumärkte und britische Supermärkte dominieren das Straßenbild von Bratislava und Prag. Waren und Dienstleistungen fließen primär von West nach Ost, die Gewinne dafür in die Gegenrichtung. Natürlich haben ausländischen Multis vor Ort Jobs und Strukturen geschaffen. Aber jeder von ihnen nimmt einem lokalen Rivalen Marktanteile weg. Länder wie Österreich mit seinen starken Exportunternehmen und Großbritannien mit seinen Banken waren die Gewinner der europäischen Globalisierung in den vergangenen Jahren.

Die Kehrseite ist, dass zehntausende Polen, Ungarn und Rumänen in den Westen strömten. Das hat die Arbeitsmärkte in Osteuropa entlastet und für mehr Wohlstand dort gesorgt, weil Auswanderer Geld nach Hause schicken. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten werden die Zuwanderer aber im Westen als Belastung erlebt, besonders unter den Globalisierungsverlierern.

Doch wird man in Europa über Einschränkungen der Personenfreizügigkeit nicht reden können, ohne dass im Osten Rufe laut werden, im Gegenzug Ausnahmen beim freien Fluss von Waren, Kapital und Dienstleistungen zu erlauben. Das wäre das Ende der Union. Die Aufgabe aller moderaten Kräfte ist nun also zu erklären, dass man die EU ganz betrachten muss, Nachteile wie Vorteile. Die Perspektiven anderer Länder mitzubedenken wird der Qualität der Debatte guttun. (András Szigetvari, 1.7.2016)