Überquerte in einem Segelboot den Atlantik: Autor Peter Nichols.

Foto: Adrian Kinloch

Sechzig Jahre lang sind sich Lulu und Gerald aus dem Weg gegangen. In ihren Neunzigern angelangt, geraten sie einander auf einem Markt auf Mallorca in die Haare. Sie, nach einem Schlaganfall an einer Art Tourettesyndrom leidend, sagt ihm, wie ausnehmend beschissen er aussieht. Er, lungenkrank und ihr Mann aus einer lang zurückliegenden Ehe, wirft ihr entgegen, sie habe wohl "den Film nie entwickeln lassen". Irgendeine Rechnung ist hier offen, so viel ist klar. Bevor sich dem Leser im Roman Die Sommer mit Lulu jedoch mehr offenbaren könnte, stolpern die hadernden Greise auch schon über die Klippen ins Meer respektive in den Tod.

Es ist eine kuriose Episode der Altershassliebe, mit der Peter Nichols seinen Roman eröffnet, der im Vorjahr unter dem Titel The Rocks auf Englisch erschien. Ein Spezialist für auf Eisbergspitzen reduzierte Prosa wie Raymond Carver hätte dieses erste Kapitel vielleicht so stehengelassen. Bei Nichols dauerte es immerhin ein Jahr, bis er sich daranmachte, seiner langgehegten Ausgangsidee auf den Grund zu gehen – ohne selbst zu wissen, was ihn erwarten würde. An diesem Tauchgang lässt Die Sommer mit Lulu nun auch seine Leser teilhaben: Der Roman ist rückwärts erzählt.

In Zeitsprüngen von jeweils einigen Jahren geht es zurück bis 1948, zum Ursprung der Misere. Statt der Folgen des Streits bekommt man Hintergründe serviert. Das Urverhängnis kann hier freilich nicht verraten werden. Nur so viel: Zur Befürchtung respektive Hoffnung, man werde in Bezug auf die mysteriösen "nie entwickelten Fotos" am Ende mit Andeutungen zurückgelassen, gibt es keinen Anlass. Da hat es Nichols auf Befriedigung abgesehen.

"Vorhang für Vorhang"

Bis zur Enthüllung dauert es rund fünfhundert Seiten, auf denen der Autor, wie er im Gespräch mit dem Standard sagt, "Vorhang für Vorhang öffnet". Es geht in eine zumeist sonnendurchflutete Mittelmeerwelt. Der Duft von Zitronen- und Olivenbäumen, süffigem Wein und sonnenverschwitzer Haut liegt in der Luft. Wesentliche Teile der Handlung spielen auf Schiffen. Zentraler Schauplatz der Zeitreise ist jedoch ein beschaulicher mallorquinischer Urlaubsclub, den die eingangs erwähnte Lulu die längste Zeit geführt hat: als menschenfreundliche, aber letztlich unnahbare Salonière für eine illustre Runde von Sommerurlaubern, die in dieser Zeitblase "die Welt außen vor lassen können".

In solcher Atmosphäre breitet Nichols die zweite wesentliche Liebesgeschichte des Romans aus: jene zwischen Aegina und Luc, den Kindern Lulus und Geralds aus jeweils zweiter Ehe. Seit sie als Kinder gemeinsam in den Wellen geplanscht haben, herrscht zwischen ihnen ein zauberischer Magnetismus. Und doch haben die Wirren ihrer Lebensgeschichten sie auseinandergetrieben. Er hat sich als Drehbuchautor versucht; sie, wiewohl sie Kunstambitionen hat, einen Geldmenschen zum Vater ihres Kindes erwählt. Kapitel für Kapitel rollt Nichols jedoch nicht nur die engere Familiengeschichte auf, sondern auch die mehr oder weniger schlüpfrigen Anwandlungen allerhand anderen Personals.

Die filmisch erzählten Episoden changieren zwischen psychologisierend, tragikomisch, actiongeladen. Nichols erzählt Schmugglergeschichten, wo es um eine Reise Lucs und Aeginas nach Marokko anno 1970 geht, thematisiert am Rande die Entwicklung Mallorcas zur Tourismushochburg, inszeniert Sexszenen, die mitunter recht ambivalent sind, etwa wenn die 70-jährige Lulu Geralds 15-jährigen Enkel verführt.

Der Weg ist das Ziel

Enttäuscht wird, wer sich vom Ende ein bombastisches Aha-Erlebnis erwartet, bei dem sich mit einem Schlag sämtliche Schicksale als verwoben herausstellten. Konstruiertheit ist dieses Romans Sache weniger: Der Erzählstil Nichols', der selbst einst den Atlantik in einem Segelboot überquert hat, ist unmittelbar, authentisch, körpersatt. Episoden stehen auch einfach für sich selbst. Freilich kann man sich auf die Suche nach Verbindungslinien und Parallelen begeben. Mehr Freude hat jedoch, wer hier den Weg als Ziel sieht. Nicht umsonst bildet die Präambel Konstantinos Kavafis' Gedicht Brichst du auf gen Ithaka und bezieht sich das Buch immer wieder auf Odysseus: Gerald folgte als junger Mann dessen Route durchs Mittelmeer, schrieb darüber Reiseberichte – bis er in die Fänge einer "Hexe" geriet.

Der nichtentwickelte Film erweist sich irgendwann nicht zuletzt als Triebfeder der Erzählung. Es ist das zwanglose Nebeneinander des Überdauernden – vertreten durch das Mittelmeer und Homers Odyssee - und der flüchtigen menschlichen Begierden, das dem Buch einen besonderen Zauber verleiht. "Was mich interessiert hat", sagt Autor Peter Nichols, "ist, dass wir in denselben Problemen stecken, dieselben Qualen durchleiden wie die Menschen zu Homers Zeiten – nichts hat sich an der Conditio humana geändert." (Roman Gerold, 2.7.2016)