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Suchte stets die Unmittelbarkeit: Abbas Kiarostami.

Foto: Reuters / Max Rossi

Wien – Im Juni 1990 – in Europa wurde gerade eine Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen – bebte im Norden Irans die Erde. Die Verwüstungen betrafen eine Gegend, die auch für das Kino von Bedeutung war. Einige Jahre davor hatte Abbas Kiarostami hier Wo ist das Haus meines Freundes? gedreht, eine einfache Geschichte von einem Jungen, der aus Versehen das Heft eines Mitschülers mit nach Hause nimmt, und dieses abends noch zurückbringen will. Die Nacht bricht herein, zwischen zwei Dörfern unternimmt der Film eine Weltreise.

Nach dem Erdbeben kehrte Kiarostami in die Region zurück, auf der Suche nach den Menschen, die er damals kennengelernt hatte. Er drehte aber nicht einfach einen Dokumentarfilm, sondern einen Film über einen Filmemacher, der sich auf die Suche nach früheren Protagonisten macht: Und das Leben geht weiter. So überlagern sich die Formen, später kam noch ein dritter Film hinzu: Quer durch den Olivenhain.

Es war diese Trilogie, die den 1940 geborenen Abbas Kiarostami um 1990 im Weltkino als einen Ausnahmeregisseur etablierte, der zugleich die Versprechungen des Neorealismus einlöste und den Ansprüchen der Moderne genügte. Er machte Filme, die ganz nahe bei den Menschen sind und doch vielfache Brechungen enthalten; die immer auch darüber nachdenken, was das Kino als Medium und soziale Form kann und soll. Dass ausgerechnet ein Künstler aus dem "Gottesstaat" Iran auf dieser Höhe arbeiten konnte, war dabei nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Kiarostami war keineswegs der einzige, aber irgendwann der bekannteste und wohl auch der bedeutendste von vielen Filmemachern, die den Iran ausgerechnet nach 1979 zu einer der wichtigsten Kinonationen werden ließen.

Einen wichtigen Kollegen ließ er 1990 in seinem Hauptwerk Close-Up selbst auftreten: Mohsen Makhmalbaf kommt ins Spiel, weil ein armer Mann die Filmbegeisterung einer begüterten Familie ausnützt. Er behauptet, er wäre Makhmalbaf und wollte bei ihnen einen Film drehen. Der Schwindel fliegt natürlich auf, in der Gerichtsverhandlung geht es dann nicht nur um diesen Fall, sondern im Grunde um die Hoffnungen von Menschen auf Repräsentation in einem Medium, das ihre Vorstellungswelt bestimmt.

Vielschichtige Strategien

Dass Kiarostami einmal einen solchen Höhepunkt des selbstreflexiven Erzählens erreichen würde, war in seiner Laufbahn nicht von jeher angelegt. Er zählte zu den Mitbegründern des "Instituts für die intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen", das im vorrevolutionären Iran nach 1970 zu einem wichtigen Ort wurde, an dem filmische Formen ausprobiert und gesellschaftskritisch genutzt werden konnten.

1974 präsentierte er mit Der Passagier einen ersten langen Spielfilm über einen Jungen, der um jeden Preis zu einem Fußballspiel nach Teheran will. Das Prestige, das Kiarostami dann mit seiner Trilogie gewann, erlaubte ihm eine immer weitere Verfeinerung seiner vielschichtigen Strategien: Er setzte häufig Laiendarsteller ein, brachte immer erzählte Zeit und Erzählzeit zur Deckung, ließ seine Filme auf mehreren Erzählebenen spielen – und suchte dabei doch nach einer Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die den kinematografischen Apparat vergessen machen sollte.

Nach 2000 schien seine Arbeit dann eine Richtung zu nehmen, die nicht alle seine Anhänger nachvollziehen konnten: Während Jafar Panahi, zum Teil auf Grundlage von Drehbüchern von Kiarostami, die sozialen Umstände im fundamentalistischen Iran genau in den Blick nahm (Crimson Gold, 2004), verschwand Kiarostami für eine Weile und drehte anschließend einen Film in der Toskana, in dem Juliette Binoche auf den Spuren von Rossellini alte Kunstschätze bewundert. Copie Conforme (2010) ist ein hintersinniges Meisterwerk, aber es entsprach nicht dem Klischee eines Filmkünstlers, der an sein Land und dessen politische Situation gebunden bleiben sollte. 2012 drehte Kiarostami mit Like Some one in Love auch noch einen Film in Japan – längst war klar geworden, dass seine Koordinaten ebenso sehr in der persischen Poesie wie in der westlichen Moderne lagen.

Wegen einer Behandlung seiner Krebserkrankung reiste Abbas Kiarostami vor wenigen Tagen nach Paris. Dort ist er am Montag im Alter von 76 Jahren gestorben. (Bert Rebhandl, 5.7.2016)