Architektur-Pionier Fritz Matzinger: "Mit dem Atrium wollte ich den Kindern die Entfaltungsmöglichkeit geben, die ihnen der normale Wohnbau vorenthält. Dort endet ihr Aktionsraum nämlich an der Wohnungstür."

Foto: Dietmar Tollerian

Baugruppenprojekte, Mehr-Generationen-Modelle, ressourcenschonendes Bauen, leistbares Wohnen: Seit Jahrzehnten praktiziert Fritz Matzinger das, was heute en vogue ist. Ein Gespräch zu seinem 75. Geburtstag.

STANDARD: Herr Matzinger, war das Bundesdenkmalamt schon hier? So einen Kanon an Farben, Formen und Materialien aus den 70er-Jahren wie in Ihrem Haus findet man heute nur noch selten.

Matzinger: Hier herinnen ist noch alles original. Aber die Fassaden wurden von vielen Mitbewohnern im Zuge wärmetechnischer Sanierungen verändert. Von den bullaugenartigen Fenstern aus Kunststoffglas beispielsweise sind nur noch wenige übergeblieben. Ich freue mich aber viel mehr, wenn Besucher kommen, die das 41 Jahre alte Haus als immer noch gültiges Modell für eine andere Form des Wohnens besichtigen.

STANDARD: Das heißt, obwohl seit Ihrem Prototyp hier in Leonding 35 weitere Bauten entstanden, ist das Konzept des Atriumhauses bis heute unverändert?

Matzinger: Es gleicht keines dem anderen, allein schon, weil jede Baugruppe, mit der ich plane, ganz eigene Vorstellungen hat. Im Kern folgen aber alle Häuser derselben Idee. Ich gruppiere durchschnittlich acht zwei- bis dreigeschoßige Wohneinheiten um einen gemeinsamen, circa 200 Quadratmeter großen Hof. Den nutzen die Bewohner zum Spielen, zum Grillen, für Konzerte, Feste, Kindergeburtstage oder auch als erweitertes Wohnzimmer und Wintergarten. Das Atrium hat eine Fußbodenheizung und ist bei Schlechtwetter durch ein Glasdach geschützt. Unsere Anlage hier besteht aus zwei solchen Wohnhöfen, die ich durch ein Schwimmbad verbunden habe. Auch von dort kann man direkt hinaus in den großen gemeinschaftlichen Garten, der sich rund um die beiden Häuser erstreckt.

STANDARD: Über die Atrien erfolgt auch der Zugang zu den Wohnungen.

Matzinger: Das ist sogar das Wichtigste daran. Denn immer, wenn ein Bewohner seine eigenen vier Wände betritt oder verlässt, geht er über den Hof. Dort begegnet man sich automatisch und plaudert kurz miteinander, so wie früher am Dorfplatz. Und diese niederschwellige Kommunikation möchte ich fördern. Sie ist die Basis für gemeinsame Aktivitäten, aus denen sich Freundschaften oder auch gegenseitige Nachbarschaftshilfe wie von selbst ergeben.

STANDARD: Ist gemeinschaftliches Wohnen auch manchmal beengend?

Matzinger: Meine Frau und ich leben seit 41 Jahren hier. Wir haben noch von keinem unserer Nachbarn gehört, dass er einen sozialen Druck verspürt, für andere da zu sein oder auch nur mit ihnen reden zu müssen. Aber es besteht im Atriumhaus so gut wie immer die Möglichkeit dazu. Ich habe mich vor Jahren sogar dazu entschlossen, in einer frei gewordenen Wohnung in unserem Haus mein Büro einzurichten. Das hätte ich bestimmt nicht getan, wenn ich hier eine Enge empfinden würde.

STANDARD: Sie haben das Atriumhaus ursprünglich als kindergerechte Wohnform entwickelt. Die Erstbezieher sind mittlerweile aber Senioren.

Matzinger: Stimmt, mit dem Atrium wollte ich in erster Linie den Kindern die Entfaltungsmöglichkeit geben, die ihnen der normale Wohnbau vorenthält. Dort endet ihr Aktionsraum nämlich an der Wohnungstür. Wenn dagegen acht oder mehr Familien gemeinschaftlich wohnen und es einen zentralen Ort für diese Gemeinschaft gibt, dann wird der für die Kinder fast zum Lebensmittelpunkt, der im Grunde sogar den Kindergarten ersetzen könnte. Bald hat sich herausgestellt, dass dieses Zusammenleben auch für Erwachsene viele Vorteile bietet: geteilte Gartenarbeit, geteiltes Schwimmbadputzen, gegenseitiges Babysitten, keine Fahrtendienste für Jugendliche, nur damit sie sich mit Gleichaltrigen treffen können. Und je mehr Alleinerzieher es gibt, umso wertvoller ist es, Vieles in der Hausgemeinschaft vorzufinden. Wissen Sie, wie praktisch es ist, wenn Sie jemanden im Atrium treffen, der Ihnen im Vorbeigehen sagt, dass er kurz einkaufen fährt, und Sie ihn bitten können, dass er Ihnen einen Liter Milch mitnimmt?

STANDARD: Vor allem im Alter ...

Matzinger: Bei den Älteren merke ich jetzt, dass sie eigentlich dieselben Bedürfnisse haben wie früher unsere Kinder: Wer viel zu Hause und nicht mehr so mobil ist, braucht in seinem Umfeld Menschen zum Reden, zum Spielen, um miteinander Zeit zu verbringen. Insofern kann das Atriumhaus auch das Penionistenheim ersetzen. Wobei wir keine Seniorenresidenz sind. Es wurden über die Jahre auch Wohnungen neu belegt oder an die Kinder weitergegeben, sodass wir hier eher ein Mehr-Generationen-Haus haben.

STANDARD: Sie haben Atriumhäuser in Oberösterreich, Niederösterreich, Wien, Salzburg und der Steiermark, aber auch in Deutschland realisiert – und überall beste Kritiken erhalten. Schule gemacht haben Sie damit aber nicht. Braucht Ihr Konzept Überzeugungstäter wie Sie, oder könnte es auch von der Bauwirtschaft übernommen werden?

Matzinger: Die üblichen Wohnbauträger, egal ob gewerblich oder gemeinnützig, machen ihre Geschäfte mit Blickrichtung auf die Jahresbilanz, aber nicht mit Blickrichtung auf Neues, Innovatives und schon gar nicht auf die Wohnungswerber. Sie machen Wohnflächenproduktion, und da sind Konzepte wie meine nicht interessant – da zählen nur die vermarktbaren Quadratmeter. Architekten wiederum dürfen sich bei Baugruppenmodellen halt nicht als Künstler verstehen. Viele Kollegen glauben, ihre Ideen nicht mehr umsetzen zu können, wenn sie im Dialog mit den Nutzern planen. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass meine Häuser durch die Gespräche mit den künftigen Bewohnern immer besser wurden. Wen ich gern für einen neuen Wohnbau gewinnen würde, das ist die Politik. Die müssten ja schon längst nach Alternativen zum frei stehenden Einfamilienhaus suchen, wenn ich mir ansehe, was diese Siedlungen alles an Straßen, technischer Erschließung und sozialer Versorgung kosten, und dabei unsere Landschaft zerstören.

STANDARD: Die Politik gibt zumindest vor, mit der Förderung von Baugruppen oder generationsübergreifenden Wohnprojekten neue Wege zu gehen.

Matzinger: Das sind aber nach wie vor Sonderformen, Ausnahmen von der Regel, die bei uns heißt: Wohnblöcke in der Stadt und Einfamilienhäuser am Land. In Deutschland und der Schweiz werden mittlerweile ganze Stadtteile von Baugruppen entwickelt.

STANDARD: Vielleicht müssen wir auch in diesem Bereich darauf hoffen, dass die überfälligen Veränderungen von der Bevölkerung ausgehen. Sehen Sie Ansätze dazu?

Matzinger: Zweifellos machen sich die Wohnungssuchenden heute mehr Gedanken darüber, wie sie wohnen werden, wenn sie einmal alt sind. Und die Fixierung aufs Eigentum ist bei den jungen Menschen auch weniger ausgeprägt. Nicht alles, was man nutzt, muss man besitzen. Wenn die Kinder in unserem gemeinschaftlichen Garten herumlaufen, denken sie bestimmt nicht daran, wem das Grundstück gehört. Und ihren Eltern wird es auch zunehmend egal. (Reinhard Seiß, 11.7.2016)